Hoffnung: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
mitfahren?«
Plötzlich mischt sich Marina in das Gespräch ein.
»Wir fahren jetzt, wir können dich nach Hause bringen, wenn du willst.«
Nach Hause bringen? Wie nett! Aber werden sie mit dem Auto fahren? Jonna sieht die Schwester fragend an, die nickt und nimmt das schlafende Baby vom Sofa. Marina fragt, wohin in der Stadt sie denn muss, und Jonna meint, es würde genügen, wenn sie sie zur U-Bahn bringen. Aber – haben sie nicht alle ziemlich viel getrunken?
Durchaus. Marina muss sich mit einer Hand an der Wand abstützen, als sie das Kind in den Flur trägt und dort in einen Autositz zu setzen versucht. Sie macht das ungeschickt und fahrig, das Baby wacht auf und schreit, und da schreit Marina den Rothaarigen an, der die Stirn auf den Küchentisch gelegt hat und schläft.
Jonna steht eine Weile im Treppenhaus und wartet.
Alex’ Schwester hat von dem Rothaarigen eine Ohrfeige bekommen, und das Baby schreit noch schlimmer als vorher. Es klingt verletzlich und zerbrechlich, wie Glas, Jonna steckt sich fest die Finger in die Ohren und starrt auf die Farbpatzer an der Wand, die ein durchbrochenes Muster bilden. Siebenundfünfzig, achtundfünfzig, zweiundsechzig. Vielleicht kann sie auf der Straße jemanden nach dem Weg zur U-Bahn fragen. Vierundsechzig, fünfundsechzig, achtundsechzig. Und dann wieder im Nachtbus schlafen. Das funktioniert schließlich. Sie hat gerade beschlossen, jetzt allein loszugehen, als sie
plötzlich etwas sieht: Da steht ein Einkaufswagen, den sie wiedererkennt. Aus der großen Galerie. Von ihrem ersten Tag in Stockholm. Was zum Teufel macht der hier?
Vielleicht ist es ja nicht derselbe. Aber auch in diesem liegen Kartons und Blümchentüten wild durcheinander, aber stand auf dem anderen Wagen nicht »Arlanda Airport«? Wie auch immer, ihr wird plötzlich klar, warum auf der Holzkiste im Flur ein Bündel Situation Stockholm lag und warum sich die Familie heute Abend bei einem alten Alki versammelt hat und nicht zu Hause bei Alex’ Mutter.
Denn sie hat kein Zuhause.
Zum Teufel, Alex’ Mutter ist genauso wie die Pennerin, die Jonna in der Galerie in eine Ecke gedrängt hat. Deshalb hat sie geschluchzt und darüber gejammert, wie sehr sie gekämpft und gerackert hat, um ein Weihnachtsessen zustande zu bringen. Jonna wird heiß von Trauer und Scham über ihre Entdeckung, und es läuft ihr kalt über den Rücken.
»Fahr zurück!«, hat die Frau in der Galerie sie angeschrien. Jetzt hallen die Worte auf neue Weise wider, mit einem schwereren Ton. »Du hast hier nichts zu suchen, hörst du? Du bist diejenige, die hier verliert. Du, und sonst niemand!«
15
Auf dem Bahnsteig in Farsta stellt Jonna kurz darauf fest, dass sie zwei Anrufe in Abwesenheit auf dem Handy hat, beide von einer Nummer, die sie nicht kennt. Sie scrollt durch die Anrufliste und sieht, dass es dieselbe Nummer ist, von der ein Anruf kam, als sie mit Alex in dem Pornoclub war. Sie starrt auf die Ziffern und versucht, vernünftig nachzudenken. Wer ruft sie an? Und wann hat das angefangen?
Verdammt. Zur gleichen Zeit, als Minken seine SMS bekam.
Sie erstarrt, als ihr das klar wird. Verdammte Scheiße, die haben ihre Nummer auch! Und jagen sie, so wie sie Minken jagen. Sie, Alex und Minken sind einfach zu weit gegangen, als sie diesen Schnaps gestohlen haben. Und was ist, wenn es auch nichts bringt, schnell nach Kolsva zurückzufahren?
Sie gibt den Gedanken an das Schlafen im Nachtbus auf, als sie sieht, wie wenig Züge jetzt nur noch fahren. Fünfundzwanzig Minuten wird sie auf dem Bahnsteig warten müssen, nur weil Weihnachten ist. Ob dann überhaupt noch Nachtbusse unterwegs sind? Also geht sie lieber auf Nummer sicher und fährt stattdessen zum Mariatorget. Schniefend und zitternd bleibt sie auf einer Bank hocken, bis alle anderen Reisenden, all die fröhlichen heimkehrenden Familien, die Rolltreppen zur Straße hinauf genommen haben.
Dann lässt sie sich schnell auf die Gleise hinunter, eilt die circa vierzig Meter durch Dunkelheit und Rußgeruch, zählt im Vorbeilaufen die an der Wand angebrachten Leuchten, und ist gleichzeitig erleichtert und ängstlich, als sie sieht, dass der Betonraum ganz leer ist.
Niemand da.
Ihre Zähne klappern laut, sie zittert und schlottert. Auf dem Boden liegt die schmutzige Decke, die Niki umgehängt hatte, als Jonna das erste Mal hier war, und sie wickelt sich widerwillig darin ein. Dann sammelt sie ein paar Pappstücke auf und verkriecht sich in die entfernteste und dunkelste
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