Hohe Wasser
dritten Tag.
– Mama, sagte ich, steh auf, du kannst nicht liegen bleiben, wir sind in Venedig, und ich möchte Papa und Benni eine Karte schreiben.
– Das kannst du doch, sagte Mama. Mir ist nicht gut. Kauf dir ein Eis, und das Eis für mich isst du auch gleich.
Der Campo ist durch die Calle de la Morte, eine schmale, finstere Gasse, mit der Salizzada San Antonin verbunden. Ich nahm es als Mutprobe. Schaffe ich es, ganz langsam durch die Gasse des Todes zu gehen, wird alles wieder gut. Ich streckte die Arme aus. Mit den Fingerspitzen konnte ich die Hausmauern links und rechts berühren. Drei langsame Schritte, Mama steht wieder auf, noch drei langsame Schritte, Benni kommt wieder zu uns, ein Schritt, Papa wird wieder vernünftig, noch ein Schritt, wir werden nicht mehr auf uns alleine gestellt sein, drei Schritte, Oma passt jetzt auf der anderen Seite auf, dass uns nichts passiert, zwei Schritte, hoffentlich kommen sie nicht einmal unangemeldet zu uns auf Besuch. Ich hatte die Mutprobe bestanden. Das Herz klopfte mir im Hals und mir war schlecht, aber die Beine waren auch dann nicht mit mir durchgegangen, als plötzlich eine Taube aufflatterte und knapp über meinem Kopf davonzog.
– Ich möchte auf den Zattere, sagte ich, dort gibt es das beste Eis von Venedig.
– Natürlich bekommst du dein Eis, sagte der Wolf, und die Wolf sagte: Wenn es kein acqua alta gibt, brauchen wir ein Ersatzprogramm.
Sie entschieden sich für die Pharaonenausstellung im Palazzo Grassi. Ich durfte mitbestimmen, dass mir das auch recht war. Wir fuhren doch mit dem Auto. Weil sich die Wolfs aber sofort wieder über Tempo und Gangschaltung stritten und ich nicht wieder im Heck vergessen werden wollte und gerade das hellblaue Wasser der Lagune aufgetaucht war, beugte ich mich vor und fragte:
– Wo arbeitet Mama jetzt?
Der Wolf schaltete sofort einen Gang herunter und sah mich im Rückspiegel an.
– In Niederösterreich. Es war sehr schwierig, dass sie diesen Platz bekommen hat. Vermutlich arbeitet sie momentan sehr hart. Wenn es ihr besser geht, schreibt sie dir bestimmt.
– Es ist schon ein Monat vergangen, sagte ich in die Augen im Rückspiegel, und ich mache mir Sorgen. Wer passt auf sie auf, wenn ich mit euch nach Venedig fahre?
Bei der Scheidung wurden wir Kinder gefragt, zu wem wir wollten. Ich sagte sofort, ich möchte zu meiner Mutter, weil ich wusste, Papa kommt alleine besser zurecht. Ich dachte, Papa versteht das. Hat er nicht. Und Benni hat sich für Papa entschieden, damit der nicht alleine ist. Das hat Mama nicht verstanden und sich schwere Vorwürfe gemacht. Die Wolfsaugen im Rückspiegel schauten wichtig.
– Wegen Venedig mach dir keine Sorgen, und wegen deiner Mutter auch nicht, die schreibt dir bestimmt sehr bald. Versprochen. Und wir machen uns heute einen feinen Tag.
Der feine Tag in Venedig begann mit dem falschen Boot. Die Wolfs waren Greenhorns und sparten – am falschen Platz. Statt einer Tageskarte kauften sie ein Billet für eine Einzelfahrt, und weil sie sich mit dem Billetverkäufer nicht richtig aussprachen und weil sie sich nicht auskannten und mich nicht fragten, bestiegen wir ein Vaporetto, das uns nicht zum Palazzo Grassi brachte und auch nicht über den Canale Grande fuhr. Die Wolfs fragten auch auf dem Vaporetto sofort nach dem Hochwasser. Die Wolf war erleichtert, dass es keinen Alarm gab, denn die Gummistiefel hatte sie im Kofferraum des Autos gelassen. An der Station l’Arsenale stiegen wir um, die Wolfs kauften jetzt doch eine Tageskarte. Wir ändern unseren Tagesplan, sagte die Wolf, vorausgesetzt, die Vorgangsweise sei mir nicht zu chaotisch. In die Pharaonenausstellung im Palazzo Grassi gingen wir trotzdem. Die Alabasteraugen von Pharao Amenemhet III. verfolgten mich durch den Saal und ließen mich nicht mehr los. Es waren keine Mumien ausgestellt. Der Wolf fragte, ob das ein Problem für mich sei. Nein, sagte ich, nur so bleiben wir vom Fluch der Mumie verschont. Der Wolf sah mich lange an. Wenn du ein Problem hast, sag es bitte. Dazu sind wir hier. Wir wollen uns vertrauen und uns alles offen sagen können.
Als wir den Palazzo Grassi verließen, heulten die Sirenen. Die Wolf wollte sofort zum Auto wegen der Gummistiefel, der Wolf meinte, mal sehen, wie schnell da wirklich jetzt das Hochwasser kommt. Wieder heulten die Sirenen, und ein rotes Motorboot der vigili del fuoco schoss über den Canale Grande, und gleichzeitig sah ich hinter dem Dorsoduro eine dunkelgraue
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