Hohe Wasser
Kanals nur mehr schwelende und tropfende Mauerreste zu uns herüberstarrten, beschlossen wir aufzubrechen. Die Wolf hatte Hunger, aber jetzt waren alle Tische der Cafes und Restaurants am Zattere besetzt.
– Vielleicht finden wir ein Geschäft, ein alimentari, sagte die Wolf.
– Da vorne ist ein Billa, sagte ich.
Die Wolf sah mich skeptisch an.
– Na, du bist ja wirklich eine Expertin.
Als ich ihr kurz darauf den gelb-roten Eingang zeigte, gebärdete sie sich, als sei sie als Verdurstende auf Wasser gestoßen.
– Hans, hast du das vermutet, dass wir hier in Venedig so einen tollen Billa entdecken?
Sie strahlte uns an: Wir ändern den Tagesplan und machen ein Picknick. Dann warf sie sich ins Getümmel, und Wolf, der sich noch immer über den belichteten Film ärgerte, stürzte ihr nach. Ich blieb draußen und wartete auf sie.
Am vierten Tag nachmittags war Mama vom Bett der La Residenza am Campo Bandiera e Moro aufgestanden. Wir streunten die Riva entlang, erfanden Geschichten zu den vielen alten Leuten, die wir trafen, setzten uns bei den Giardini ins Vaporetto und fuhren hinüber zum Lido. Die Strandkörbe waren um diese Zeit noch eingewintert. Der Strand gehörte uns und ein paar anderen Muschelsucherinnen. Wir liefen gegen den Wind, spielten fangen mit den Wellen, bis unsere Schuhe ganz durchnässt waren. Rote Stangen spiegelten sich im Sand und ein aufgehender nasser Mond. Die Taschen und Kapuzen unserer Windjacken füllten wir mit Muscheln. Sie hatten dieselben Pastelltöne wie das Wasser, die Luft und die Lagune. Bei Papa musste jede Muschel besprochen werden: Kommt sie mit, bleibt sie da, warum muss die mit, was machst du mit der. Papa hatte Angst, dass mit zu vielen Muscheln im Gepäck das Auto irgendwo hängen bleiben würde. Jetzt, wo wir unser Gepäck selber schleppen mussten, fielen Muscheln nicht mehr ins Gewicht.
So, und jetzt komm, sagte Mama, heute gibt es noch ein Zimmerpicknick. Wir fuhren zum Zattere und kauften ein. Grissini, Sardinen, Salami, Prosciutto, Parmigiano, Ricotta, Fritole und einen Sack voller Flaschen.
Die Sachen müssen wir ins Hotel schmuggeln, sagte Mama. Wir haben heute ausnahmsweise im Supermarkt eingekauft, ausnahmsweise. Wenn alle in den Supermarkt laufen, gibt es hier bald keine Geschäfte mehr. Ich holte unseren Schlüssel, während sich Mama mit den Einkaufstaschen nach oben zu unserem Zimmer schlich. Der Hotelbesitzer, der mir erzählt hatte, dass er ein Marchese ist, sang sein Lied fertig. Dann gab er mir den Schlüssel und bestaunte meine Muscheln. Als ich zu unserem Zimmer kam, hatte Mama bereits eine der Flaschen geöffnet. Es war keine Weinflasche. Wir breiteten ein Badetuch als Picknickdecke über das Doppelbett. Mama war bereits sehr redselig. Mir ist sie still lieber. Ich war im Bad mit den Muscheln beschäftigt, Mama wollte in der Zwischenzeit alles für unser Zimmerpicknick vorbereiten. Ich hörte Flaschen klirren. Ich wusch die Muscheln im Waschbecken vom Sand und füllte sie in leere Plastikflaschen, deren Hals ich abgeschnitten hatte. Als ich fertig war und aus dem Bad kam, waren die Fritoles auf den Boden gerollt, die Konserve mit den Ölsardinen war umgekippt, das Öl tropfte auf den Teppichboden und die Grissinis lagen zerbrochen und zerbröselt im Bett neben Mama, die zum Plafond starrte und sich nicht rührte. Ich erschrak und schüttelte sie. Dann sah ich, dass Mamas Flasche bereits halb leer auf dem Nachtkasten stand.
– Warum machst du das, schrie ich sie an, warum hörst du nicht auf damit?
– Du bist wie dein Vater, sagte sie, warum lasst ihr mich nicht einfach in Ruhe? Ich habe für dich eingekauft, iss etwas. Hol dir die Fernbedienung. Sei mein braves Mädchen. Heute ist mir danach, dass ich mir einen Schluck genehmige. Wir hatten doch einen schönen Tag.
Ich hätte Mama am liebsten ihren Schluck über den Kopf geleert und den Inhalt der anderen Flaschen auch. Stattdessen lief ich ins Bad und sprang auf meine Muscheln, bis der Boden ganz mit rosa, blauen, weißen, schwarzen und roten und violetten Splittern bedeckt war. Wir hätten einen schönen Tag haben können, aber wir hatten ihn nicht. Dann lief ich hinaus und hinunter in die Calle de la Morte. Eine Mutprobe war fällig. Wenn ich es schaffe, im Zwergenschritt durch die Todesgasse zu kommen, dann wird es wieder besser. Mama trinkt wirklich nur einen Schluck. Mama trinkt ihre Flaschen leer und dann ist Schluss. Oder Benni und ich tauschen. Und Benni bleibt bei ihr,
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