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Hohe Wasser

Hohe Wasser

Titel: Hohe Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugenie Kain
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geben.
    Ich konnte Mama am Telefon abschirmen, wenn sie schlafen wollte. Ich konnte Familiengeheimnisse bewahren. Ich konnte daheim die Flaschen wegräumen, wenn uns jemand besuchen kam. Ich konnte für Mama da sein, wenn sie mich brauchte. Ich konnte mir den Wecker stellen. Ich konnte in der Schule die Beste sein. Ich konnte mir aus schönen Kleidern nichts machen und in unmöglichen Hosen und alten Pullis herumlaufen, als wär’s mir so am liebsten, weil es bequem ist. Ich konnte für uns Spaghetti al burro kochen. Aber wenn uns das Geld trotzdem ausgeht, kann ich nichts tun.
    Papa ist ausgebrannt.
    – Er liegt im Spital, sagte sie.
    – Und da musst du auch durchbrennen, schrie ich.
    – Versteh doch, sagte sie, Papa wird uns nicht mehr unterstützen. Jetzt liegt es an mir. Ich muss arbeiten. Für dich und mich und für Benni. Ich möchte, dass Benni wieder zu uns kommt. Zuvor aber muss ich euch ein halbes Jahr alleine lassen.
    Nur für Benni hatte ich die Wolfs in Kauf genommen. Mit Benni und Papa waren wir eine Vollblutfamilie. Mama und ich waren Halbblut. Mit den Wolfs kam jetzt die Kunstblutvariante.
    Die Wolfs bemühten sich. Ich sollte ihnen vertrauen. Deshalb ließen sie mich abstimmen. Ich wollte ihnen die Freude nicht verderben. Warum sagen sie nicht einfach, was zu tun war?
    Gefällt dir das Hotel?, fragte mich die Wolf, als sie sich endlich für einen großen weißen Kasten entschieden hatten, nicht zu weit weg von der Autobahn, nicht zu weit weg vom Bahnhof, zentral und deshalb laut, aber einigermaßen günstig. Ein Doppelbett und eine Campingliege, drei Plastiksessel um einen Klapptisch mit Damasttischtuch. Gefällt dir das Zimmer? Wo möchtest du schlafen? Im Doppelbett flüsterten sie miteinander, und ich spürte, wie unbehaglich sie sich fühlten. Ich bin ja nicht ihr Kind. Und ich auf meiner Campingliege atmete ganz flach, weil sonst die Eisenfedern quietschten und ich die Wolfs endlich schlafen hören wollte, damit ich in Ruhe nachdenken konnte. Im Auto hatten sie vergessen, dass ein fremdes Kind im Heck saß. Vierter Gang, fünfter Gang, bellte der Wolf, nachdem die Wolf das Steuer übernommen hatte, überholen, warum überholst du nicht? Fahr doch nicht so schnell, sagte die Wolf, fahr doch vorsichtiger, du fährst viel zu knapp auf. Er übersah eine Abfahrt, sie las die Karte falsch. Sie wollte eine Pause einlegen, er wollte durchfahren, da fiel ihnen wieder ein, dass sie ein Kind im Auto hatten, das sie fragen konnten, was zu tun sei. Ich sagte, am liebsten wäre ich schon in Venedig, aber mir wäre schlecht.
     
    Mit Mama wohne ich in Venedig. Wir machen keine halben Sachen, sagt sie. Heraus aus dem Bahnhof, hinein ins Vaporetto, möglichst weit weg von den Touristenzentren. Das war immer der schwierigste Teil unserer Ankunft, denn wir reisten mit viel Gepäck, und Mama ist wählerisch. Von oben gesehen, sieht Venedig aus wie ein Fisch. Und weil der Fisch am Kopf zu stinken beginnt, gingen wir in Castello oder Dorsoduro auf Zimmersuche.
     
    Auch mit der Vollblutfamilie waren wir in Venedig. Ein Vormittagsausflug im Urlaub. Benni war noch klein und wollte von San Marco eine Taube mitnehmen, Papa fühlte sich nicht wohl, weil es schwül war, nach Kanal roch und alles viel zu teuer war. Ich hätte gerne eine Schwalbe aus durchscheinendem lila Glas gehabt und bekam sie nicht. Mama sagte, mit euch kann man nicht einmal nach Venedig fahren.
     
    Beim Frühstück erkundigten wir uns beim Ober nach dem Wetterbericht. Wir sprachen noch einmal über das Hochwasser. Der Wolf sagte, dass er sich auch daheim über die Hochwasserschauer ärgert. Andererseits ist er bei der letzten Überschwemmung auch zur Donau geradelt und war von der Naturgewalt fasziniert. Und acqua alta sei eben ein besonderes Erlebnis. Zuerst das Zusammenspiel der Kräfte. Nach Vollmond und Neumond ist die Flut höher als sonst. Weht der Schirokko, jagt er die Wassermassen in den Golf von Venedig, vom Nordosten pfeift die Bora auf die Adria herunter und verhindert, dass das Wasser wieder abfließen kann. Die Flut wälzt sich in die Lagune. Die Sirenen geben Alarm. Am Markusplatz wird das Wasser aus den Gullys gedrückt. Die Kanäle schwellen an und bemächtigen sich der Gehsteige. Vaporettos stellen die Fahrt ein, weil sie nicht mehr unter den Brücken hindurchkommen. Faszinierend sei, wie die Bevölkerung gelernt hat, mit acqua alta zu leben. Sie zieht sich Gummistiefel an. Sie stellt Holzstege auf und bahnt sich damit neue Wege

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