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Hohe Wasser

Hohe Wasser

Titel: Hohe Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugenie Kain
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gerade dort scharfe Kanten, wo alles glatt und faltenlos sein sollte. Sie ließ ab vom Hemd und schaute aus dem Fenster. Vom Westen kam der Ozean zu ihr. Der Bach vor ihrem Fenster war über die Ufer getreten und hatte die Gleise der Lokalbahn überschwemmt, die Reihenhaussiedlung, die Kukuruzfelder und die Terrasse des Nachbarhauses. Mit fauchendem Bug kämpfte sie sich durch zähe, feuchte Tage. Es gelang ihr nicht mehr, aus dem Wellental herauszukommen. Sie kam auf halbe Höhe des Wellenberges, ein kurzer Blick auf Wellenkämme und auf Gischt, dann ging es wieder in die Tiefe. Sie hatte nichts anderes zu erwarten als den Wechsel der Gezeiten. Ebbe, Flut. Vollmond, Neumond. Die Strandwächter würde sie winken lassen und rufen, den Flaggensignalen würde sie keine Beachtung mehr schenken. Sie würde weit hinaus gehen ins Wasser und warten. Mit dem letzten Neumond war die Flut gekommen. Jetzt würde sie sich der Strömung überlassen. Um sicher zu gehen.

Acqua Alta
    Der Pfeil der Hochdruckströmung über Nordafrika zielte auf uns, und auf unserer Seite hielten noch immer die Pfeile der kalten Fallwinde dagegen. Eine viel versprechende Wetterlage. Wir könnten uns nasse Füße holen. Aber darum ging es nicht. Die Frage war: Wollen wir das? Sollen wir das? Können wir das vertreten? – Vor uns? – Vor den anderen? Andererseits …
    Die Wolf schlug vor, abzustimmen. Der Wolf hielt die Idee für gut, weil sie aber nicht von ihm war, musste er sie zurechtrücken. Die Abstimmung muss demokratisch sein. Nur eine geheime Abstimmung ist demokratisch. Jeder hat Gründe für seine Entscheidung, und die sollen später nicht zum Vorwurf werden. Wir stimmten ab. Geheim. Drei gleich große, gleichfarbige Zettel, wir nahmen die gelben Zettel mit der Klebekante, mit denen die Wolf sonst ihre Gedanken zum Tag auf den Kühlschrank heftete, und Bleistifte, die die Wolfs für solche Fälle in einem Lederetui mit verschiedenen anderen Schreib-, Zeichen- und Spielsachen in einem alten Handarbeitskoffer, ihrem Kreativkoffer, aufbewahrten. JA ist Strich, NEIN ist Kreuz, die hölzerne Obstschale ist die Urne, das Ergebnis zählen wir gemeinsam aus. Zwei Striche, ein Kreuz. Das hieß, wir fahren nach Venedig, und mit etwas Glück erleben wir acqua alta und bekommen nasse Füße.
    Zu zweit wären die Wolfs nach Griechenland geflogen. Ostern auf Kreta, Schwimmen im libyschen Meer und die Schneegipfel der weißen Berge vor Augen, dann noch ein, zwei Tage Athen, weil diese Stadt nur im Frühjahr erträglich ist. Aber jetzt hatten sie mich, und zu dritt wurde der griechische Frühling zu teuer. Es wunderte mich, dass sie Venedig vorschlugen.
    Mama beschäftigte sich mit zerstückelten Wirklichkeiten. Ich konnte mir darunter nichts vorstellen. Dann fiel sie im Vorraum gegen den Spiegel. Ich sammelte die Scherben vorsichtig ein. Ich wollte den Spiegel reparieren. Mama hatte gelacht. Wir fügten die Scherben auf dem Tisch aneinander und beugten uns darüber. An die vielen Spiegelsplitterbilder musste ich denken, als ich mit den Wolfs durch Mestre fuhr auf der Suche nach einem Quartier. Ihr Venedig hatte nichts zu tun mit dem von Mama und von mir. Jeder von uns hatte einen anderen Splitter vor Augen.
    Sechs Monate lang müssen die Wolfs und ich eine Familie sein. Ein Monat haben wir hinter uns, aber die Wolfs sind der Ansicht, wir müssen das Wir-Gefühl weiterentwickeln. Deshalb die Reise. Damit wir uns kennen lernen. Wir kennen uns. Die Wolfs sind Freunde von uns. Auch nach der Trennung haben sie nicht nur zu Papa, sondern auch zu uns Kontakt gehalten. Papa und Benni sind nach der Trennung aus meinem Gesichtsfeld verschwunden. Ich sagte mir, dass sie jetzt auf der dunklen Seite des Mondes wohnen. Irene und Hans waren der Beweis, dass es einen Weg dorthin gibt. Mir erzählten sie nichts – wegen einer Abmachung mit Mama. Nach einem Telefongespräch mit Irene hat Mama manchmal gestöhnt. Sie luden uns oft ein, obwohl Mama schon andere Pläne gehabt hätte fürs Wochenende. Lang schlafen und nichts tun. Irene und Hans sind ein bisschen anstrengend, sagte sie, aber das bleibt unser Geheimnis.
     
    Mit der anstrengenden Irene und dem anstrengenden Hans musste ich jetzt ein Wir-Gefühl entwickeln. Mama sagte, das sei die beste Lösung. Ich sagte, dir ist nichts besseres eingefallen. Sie will mich nicht mitnehmen. Sie sagte, sie kann mich nicht mitnehmen. Es sei ihre Chance für den Neuanfang. Sie muss annehmen. Viele Chancen werde man ihr nicht mehr

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