Hohe Wasser
durch die Stadt.
Hochwasserschauen sei dabei gar nicht so leicht möglich, weil die Carabinieri mit avanti andiamo avanti dafür sorgten, dass es auf den pasarelle wegen Schaulustiger nicht zu Staus und Behinderungen käme. Und schließlich, sagte der Wolf, und das sei für ihn das Spannendste, ist acqua alta ein Zeitfenster in die Zukunft. Venedig ist aus dem Meer gekommen, und das Meer wird sich die Stadt wieder holen. Auch wir sind aus dem Meer gekommen, und das muss uns zu denken geben. Der Kommentar der Wolf: Sie hatte für uns drei Gummistiefel eingepackt, weil in Venedig mit dem acqua alta auch die Preise für Gummistiefel in die Höhe stiegen. Der Wolf hatte nicht vor, mit dem Auto nach Venedig zu fahren. Er wollte auch nicht auf Verdacht Gummistiefel anziehen. Die Wolf wiederum dachte nicht daran, die Gummistiefel im Handgepäck mitzuschleppen. Rechtzeitig fiel ihnen ein, dass ein fremdes Kind mit ihnen am Frühstückstisch saß. Sie schauten sich an.
Was möchtest du dir ansehen in Venedig?, fragte die Wolf. Komm, sag schon, sagte der Wolf, du warst öfter hier als wir. Du bist heute und morgen unsere Expertin.
Mama trieb es weg von den Kanälen mit ihrem Lärm der Vaporettos und Motorboote. Wir suchten uns Plätze, von denen aus kein Wasser zu sehen war. Am Campo Bandiera e Moro oder am Campo Santa Margherita oder in der Via Garibaldi saßen wir stundenlang. Ich bekam Geld für Eis, und Mama streckte die Beine aus, saß und schaute und horchte. Horch, sagte sie, horch auf die Geräusche. Stimmen und Schritte. Mach die Augen zu, horch und versuch dir ein Bild dazu zu machen. Hier kommt jemand, der in großer Traurigkeit gefangen ist, hörst du, jeder Schritt eine Überwindung, jeder Atemzug ein Befehl. Aber diese Schritte hier haben heute schon einen guten Tag gehabt, hörst du, sie kommen beschwingt und ausgeglichen daher und werden jetzt zum Schatten gehen.
Auch Mama ging in Venedig gerne zum Schatten. Andar per ombra in eine bàcari auf ein Glas Wein und ein cicheto, einen Happen, meist unsere einzige Mahlzeit. Wenn wir nicht auf einer Bank saßen oder mit dem Vaporetto fuhren, saßen wir im Schatten. Mit dem Essen hielten wir uns zurück. Günstig, sagte Mama, ist hier nur der Wein. Die Zimmer zahlte Mama mit Kreditkarte. Einmal lagen wir in einem grünen Zimmer, am Plafond runde weiße Wolken und dicke Engel über nackten Frauen, von der Mitte des Bildes hing ein riesiger, grün schimmernder Kristallluster mit gläsernen Blütenkelchen und Kerzen auf unser Doppelbett. Wenn uns kein Tiepolo-Engel auf den Kopf fällt, erschlägt uns der Murano-Luster, sagte Mama. Draußen vor dem Fenster auf dem Rio di San Barnaba ankerte ein Gemüseboot.
Schade, dass wir uns hier nichts kochen können, sagte ich. Du bist wie dein Vater, sagte Mama, an allem hast du etwas auszusetzen.
Ein anderes Mal wohnten wir am Campo Bandiera e Moro in einem alten Palazzo. Der Besitzer des Hotels saß an seinem Schreibtisch in einer riesigen, mit Teppichen, Gobelins, Eichentischen, Truhen und Statuen voll gestopften Halle. Er bediente sein Faxgerät und sang dabei. Wir frühstückten im selben Raum und wurden von livrierten Dienern aus Asien bedient, die auch unser Zimmer machten. Mama aber verließ das Zimmer nicht. Unser Zimmer hatte zwei kleine quadratische Fenster, die auf den Campo Bandiera e Moro blickten. Ein ruhiger Platz. Drei Bäume, zwei Zisternen, vier Bänke, eine Kirche, zwei Palazzi, Wohnhäuser, eine Drogerie, ein Altwarengeschäft. Am Morgen führten schwatzende Frühaufsteher ihre Hunde zu den Bäumen. Waren wurden mit Rodeln über den Platz geschoben. Die Rollläden der Geschäftsauslagen ratterten hoch, klappernde Schritte strebten quer über den Platz, andere verhallten vor der Kirche. Grüße. Rufe. Schritte wurden langsamer. Wortwechsel. Die Sitzbänke wanderten wie Sternbilder am Himmel. Am Morgen stand jede Bank in einem anderen Winkel des Campo. Die Frühaufsteher rückten zwei davon auf Hörweite zusammen. Am Nachmittag kamen die Alten. Die Bänke standen einander eng gegenüber im Schatten. Nach der Schule eroberten die Kinder den Platz und spielten Fußball. Ihre Eltern stellten die Bänke zu einem Viereck in der Mitte des Campo auf. Mit Einbruch der Dunkelheit wurden die Stimmen leiser, die. Bänke rückten wieder auseinander in die Winkel des Campo. Von dort stieg die Nacht über immer wieder das Lachen einer Frau auf.
Mama blieb im Bett mit den goldenen Schnörkseln und Zierleisten, auch am
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