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Hohe Wasser

Hohe Wasser

Titel: Hohe Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugenie Kain
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angenehm. Die Matratze war zu weich. Wie Fässer rollten die Kinder auf sie. Das Mädchen mit entspannt ausgebreiteten Armen, der Bub eingeigelt, auch im Schlaf die Fäuste geballt, bereit zur Attacke und auf den Hinterhalt vorbereitet. Laut schnaufend suchten sie Halt an ihr, während das Bett mit ihnen durch eine unruhige Nacht schlingerte. Draußen vor dem Fenster die Rufe der Nachtschwärmer und das gelbe Licht einer Straßenlaterne, die eine hohe Granitfassade gegenüber ausleuchtete und scharfe Schatten ins Zimmer warf. Um sie herum die Nachtfahrt des Hotels. Gedämpfte Stimmen am Gang, eine rauschende Spülung, gurgelnde Abflüsse, knarrendes Holz. An der Tür hing die Preisliste. Sie besagte, dass ihre Tage in diesem Zimmer gezählt sein sollten. In diesem Hotel nächtigten Menschen einer anderen Kategorie. Sie waren noch nicht einmal richtig angekommen und schon wieder hieß es, Groschen zählen, kalkulieren, sparen, streichen, einschränken. Sie verstand sich nicht mehr aufs Haushalten. Keine halben Sachen. Den Kindern wollte sie das Meer zeigen. Und Ar Mor. Das Land am Meer. An ihrem Meer. Das Meer, das glucksend in die Nacht glitt und brüllend aus ihr herausbrach. Das Meer, das die Schenkel leckte und gegen die Brust sprang. Das Meer mit seiner ständig wechselnden Landschaft. Wellentäler, Wasserberge und Schaumkämme. Das Meer, das ruhig wie ein Spiegel lag. Das Meer, über das der Wind Schafe blies. Das Meer, das sie trug. Das Meer, das das Land formte und den Himmel färbte. Türkis, tintig, bleifarben, meergrün – glauque. Das Meer. Mit jeder Bewegung erzählte es von der Sehnsucht, von der Unendlichkeit, von anderen Welten. Das Meer, das sich breit machte, seinen Platz beanspruchte, einfach da war. Das Meer, das Ruhe gab. Und Kraft.
    Was war den Kindern zuzumuten? Sie wussten nicht, was auf sie zukam. Sie hatte ihnen nicht alles gesagt. Natürlich machen wir auch zu dritt Ferien. Natürlich fahren wir auch zu dritt ans Meer. An den Ozean. Ich zeige euch eine andere Welt. Algenwälder, Meerwölfe, Seespinnen. Muschelfelder. Salzgärten. Wolkenbänke. Ebbe. Springflut. Sturmwind. Es wird schön. Ihr werdet sehen. Die Kinder hatten, ohne zu murren, ein jedes einen Koffer hinter sich hergezogen, während sie die Reisetaschen schleppte. Mit diesem Gepäck würde es schwierig sein voranzukommen. Von einer Pension zur nächsten. Tout complet. Die ganze Küste ist voll. Es sind Ferien, Madame. Sie haben nicht gebucht? Das ist ein Problem. Es tut uns Leid. Alles war ein Problem und nichts tat ihnen Leid. Mit aller Kraft ruderte sie durch diese Sprache, die es ihr nicht verzeihen wollte, dass sie sich seit Jahren nicht mehr in ihr verständigt hatte. Habe ich mich richtig ausgedrückt? Sie verstehen mich? Wir fahren nicht zurück. Wir bleiben hier.
     
    Die Sache war klar. Er zog aus. Sie und die Kinder blieben im Haus. Sie hatten keine andere Wahl. Er zahlte Unterhalt. Solange sie keine Arbeit gefunden hatte oder keinen neuen Mann. Man nannte es Wiedereinstieg. Wohin hatte sie sich gehen lassen, die letzten zehn Jahre? Sie bot sich an. Halbherzig. Das, was sie zu bieten hatte, war nicht gefragt. Was gefragt war, konnte sie sich nicht bieten lassen. Mit zwei schulpflichtigen Kindern war ihr Wert nicht gestiegen. Nicht am Arbeitsmarkt, und auch nicht bei den Männern. Damit hatte sie gerechnet, nicht aber damit, dass man sie sofort als Außenstehende erkannte und ihren Versuch, wieder Fuß zu fassen in der Welt, als Anmaßung empfand.
    Die Jahre im Haus hatten das Denken verändert. Kleinigkeiten waren wichtig geworden. Die Beschaffenheit der Jausenbrote, die Tischdekoration bei Familienfeiern. An den Details hatte sie sich abgenutzt. Langsam war sie geworden in ihrem Streben nach Perfektion, und umständlich. Die Zukunft war zum überschaubaren Zeitraum geschrumpft. Die nächsten sieben Stunden, die nächsten sechs Tage. Wann sind die Kinder außer Haus, wann kommt er von der Arbeit heim? Die Werbepost, die der Briefträger zu den Häusern schleppte, waren Nachrichten von draußen. Wort für Wort studierte sie die Aussagen, Bild für Bild verschlang sie die Botschaften. Sie, die in anderen Zeiten die Kulturseiten fremdsprachiger Zeitungen gelesen hatte, überflog jetzt Sonderangebote und Aktionen, analysierte, was wo wie viel kostete, während sie bei der Zeitung nur mehr den Regionalteil aufschlug und gleich wieder weg legte. Eine Schnäppchenjägerin war sie geworden. Das Jahr über Weihnachtsgeschenke

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