Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hohe Wasser

Hohe Wasser

Titel: Hohe Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugenie Kain
Vom Netzwerk:
Schulterzucken wäre sie daneben gestanden. Sie verstand sich nicht mehr aufs Wohnen. Wenn Wind aufkam, zog es sie hinaus auf die Streuobstwiesen. Unter den Mostbirnbäumen lauschte sie den Flüsterliedern der Blätter und wurde ruhig. Sie glaubte, die Botschaft zu verstehen. In jeder Himmelsrichtung brandete das Meer.
     
    Die Motorsäge schnitt ins Holz.
    Die Motorsäge schnitt in das ächzende Holz des Apfelbaums, den sie zur Geburt des Sohnes gesetzt hatte. Cox Orange, kleine Äpfel mit geflammten Wangen, saftig, würzig mit schwacher Säure, zu schwach, um im Kellerregal den Winter zu überdauern.
    Die Motorsäge schnitt in das splitternde Holz des Quittenbaumes. Der Baum der Tochter. Feste rosa Blüten im Frühjahr, leuchtend gelbe Früchte im Herbst, mit feinem Duft, aber ungenießbar in ihrer Wolle. Erst gekocht erzählte ihr Geschmack vom Licht der weiten Steppe.
    Das Haus war die Gegenwart mit ihren Bleigewichten, die sich auf die Brust senkten und das Atmen schwer machten und verzögerten. Dem hatte sie etwas entgegengesetzt und Bäume gepflanzt. Die knospenden Zweige versprachen Zuversicht, die Kronen sollten die Nebeldecke durchstoßen und die Ferne sehen.
    Die Motorsäge schnitt in Stämme, die mit zwei Händen zu umfassen waren. Die Motorsäge schnitt in Stämme, die sich umarmen ließen. Mostbirnbäume, Edelobst, Sträucher, plötzlich wurden sie alle zur Gefahr, unheilbringend wie Vögel und Bienen, die auf ihrem Flug die Seuche verbreiteten. Das Vergehen einer Landschaft: Verändert, verstummt, verschwunden.
     
    Tout complet. Es war, wie man ihr versicherte, für die Bretagne ein bemerkenswerter Sommer. Vierzig Grad, sogar unten am Strand im Schatten der Stadtmauer. Die Kinder waren müde und hungrig und hatten keinen Blick für das Meer. Sie hatte nicht an den Marienfeiertag gedacht, und daran, dass ihr Ziel ein beliebter Urlaubsort war. Es schien, als wären alle französischen Familien zur selben Zeit en vacances gefahren und genau an diesen einen Ort, wo es deshalb für eine Mutter mit zwei Kindern keinen Platz mehr gab. Sie war mit den Kindern an den Strand gegangen, hatte die Koffer abgesetzt und sich in den Sand fallen lassen.
    Das Meer war gerade dabei, sich zurückzuziehen, und gab Muschelbänke und Seegraswiesen preis. Vom roten Sprungturm und den Betonmauern des Schwimmbeckens hatte es sich bereits abgewandt, und in einer halben Stunde würde es auch die vorgelagerten Inseln als Hügelkette zurückgelassen haben. Tief und blau lag der Himmel über dem Meeresrand. Nach achtzehn Stunden Bahnfahrt hatte sie keinen größeren Wunsch, als die brennenden Schuhe auszuziehen und den feuchten Findlingen entlang auf den Horizont zuzulaufen.
    – Woran erkennt ihr eine Meerjungfrau?, fragte sie die Kinder.
    – An den Brüsten, sagte der Knabe.
    – Am Schuppenschwanz, sagte das Mädchen.
    – Am nassen Kleidersaum, sagte sie. Manchmal tropft auch Wasser aus dem Ärmel. Es gibt mehr Meerjungfrauen und Wassermänner, als wir denken. Wir könnten jetzt zum Wasser laufen und das Meer begrüßen. Wir holen uns nasse Füße und gehören dazu.
    – Ich bin müde und habe Durst, maulte der Bub.
    – Ich will ein Eis, forderte das Mädchen.
    Am Strand zurückbleiben wollten beide nicht.
    Bei jedem Schritt wichen die Schatten des Wassers aus dem Sand. Hier blieb nichts, wie es gerade war. Am Abend würde das Meer wieder gegen die Mauern der steinernen Stadt branden. Die vorgelagerten Inseln würden unerreichbar sein, Muschelbänke und Seegraswiesen verschwunden in der anderen Welt, zu der auch der Sprungturm keinen Weg durch die Gischt wies.
    Madame? Der Mann hinter der Rezeption des Hotels, das Zum goldenen Ginster hieß, taxierte die Kinder, das Gepäck und die nasse Spur, die sie quer über die blau-weißen Fliesen zu ihm gezogen hatten. Oui madame. Ein Zimmer war frei. Sie hatten Glück. Zu ihrem Glück gehörte ein türkises Mosaikbad mit goldenen Armaturen, ein dicker, grüner Teppichboden, gediegene Möbel aus dunklem, glänzendem Holz.
    Die Kinder stritten sich, wer bei ihr im Ehebett liegen durfte, sie versuchten es mit Stein, Schere, Papier, Auszählreimen und Münzenwerfen. Nichts aber brachte das für sie erwünschte Ergebnis. Beide wollten sie bei ihr und neben ihr liegen. Da gab es nur eine Lösung. Sie musste vom Rand in die Mitte und sich schmal machen. Die körperliche Nähe zu den Kindern, die sie bereits verloren geglaubt, nach der sie sich gesehnt hatte, war ihr in diesem Bett nicht

Weitere Kostenlose Bücher