Hohe Wasser
fand sie oft keinen Halt. Etwas war mit ihren Beinen. Auch in flachen Schuhen stolperte sie und fiel. Aufgeschlagene Knie, geschwollene Knöchel, schmerzende Zehen. Die Kinder lachten, wenn sie taumelte. Die Kinder machten es ihr nicht leicht. Jedes Essen war ein Aufruhr. Die Hummer mit den zusammengebundenen Scheren in den Aquarien der Restaurants taten ihnen Leid. Sie verachteten die Menschen auf den umliegenden Tischen, die Schnecken und Seespinnen verzehrten und auf deren Tellern sich Berge von Krabben-, Garnelen- und Muschelschalen türmten. Crêpes schmeckten nicht wie die Palatschinken daheim, und Teller mit aus Buch-Weizenmehl hergestellten Galettes mit pikanter Füllung schoben sie ungestüm weg. Die Kinder meinten es ernst. Es ging ihnen nicht um das Essen. Es ging um sie, ihre Mutter. Vor den Augen der Kinder schälte sich eine neue Mutter aus dem alten Leben. Sie aber wollten sie, wie sie immer gewesen war, wenigstens die Mutter sollte ihnen vertraut bleiben, etwas unbeholfen in ihrer Liebe, leicht in der Ecke zu halten und grenzenlos für sie da.
Sie versuchte, sich den Kindern über das Meer und seine Küsten zu erklären. Sie fuhr mit ihnen zu schroff ins Meer abstürzenden roten Klippen. Sie wanderten auf Zöllnerwegen zwischen von Meer und Wind geformten Granitblöcken, die die Abendsonne zum Glühen brachte und Gestalt annehmen ließ. Sie lief mit ihnen über weite Strände und ließ sich fallen bei einem aufs Meer hinausblickenden Menhir. Sie trieb die Kinder durch steinerne Dörfer an blauen Hortensienbüschen vorbei zu den Fratzen der Wasserspeier an grauen Kirchtürmen und zu geheimnisvollen Brunnen. Aber je mehr sie den Kindern zeigte, je mehr sie ihnen erzählte, je mehr sie auf die satten Farben, die Leuchtkraft der Luft hinwies, je mehr sie versuchte, ihnen wieder nahe zu kommen, umso verschlossener wurden sie. Die Kinder wehrten sich gegen den Aufbruch. Die Kinder verbündeten sich gegen sie. Eng umschlungen schliefen sie auf dem Sofa. Seit einigen Tagen beanspruchte niemand mehr den Platz im französischen Bett.
Es war ein bemerkenswerter Sommer. Im Fernsehen standen Reporter mit ernsten Gesichtern vor aufblasbaren Kühlhallen. Drinnen stapelten sich Särge. Rund 3000 alte Menschen waren in der Hitze der Großstadt Paris umgekommen. Es war kein natürlicher Abgang. Verdurstet, ausgetrocknet, sich selbst überlassen, füllten sie die Leichenhallen, überforderten die Bestattungsunternehmen. Wie konnte es soweit kommen?, fragte eine Frau ihr Mikrofon. Weil die Krankenhäuser voll waren. Weil keine Krankentransporte mehr durchgeführt wurden. Weil sich im Altenheim, wie eine Frau im weißen Kittel erklärte, eine Schwester um 72 Kranke kümmern musste. Weil die Leute in die Ferien gefahren waren, ohne sich um ihre Angehörigen zu kümmern, wie ein Mann, der als Regierungschef ausgewiesen war, beklagte. Es gebe keinen Familienzusammenhalt mehr, bedauerte er, und ein Insert wies darauf hin, dass der Mann wegen der Katastrophe seinen Urlaub abgebrochen hatte. Deswegen haben wir gestreikt, nicht nur einmal, sagte ein anderer Mann in weißem Kittel, die Kamera folgte ihm ins Innere eines Krankenhauses, und der Mann zählte auf: Einsparungen, Personalreduktion, Gesundheitsreform. Auf den Gängen standen die Notbetten in Zweierreihen, und die Kamera stoppte bei einer an mehrere Infusionsflaschen angeschlossenen, heftig atmenden Greisin und wechselte von der Totalen zur Großaufnahme eines zuckenden, zahnlosen Mundes.
Das Hotel im Fischereihafen hatte sich auf durchreisende Geschäftsleute spezialisiert. Es war zweckmäßig eingerichtet für Menschen, die reisen mussten und deshalb nie lange blieben. Madame hatte sich wieder belehren lassen müssen. Die Hitze, die Urlaubszeit, das keltische Festival. Warum haben sie nicht gebucht? Die Gepäcksaufbewahrung am Bahnhof war wie in allen größeren Städten aufgelassen worden. Eine Vorsichtsmaßnahme wegen befürchteter Bombenanschläge. Aber der Fahrdienstleiter sprach deutsch und trug eine Armbanduhr mit dem alten Flügelrad der Bundesbahn. Die Eisenbahner waren vernetzt. Madame, ich habe Freunde in ihrer Heimat, versuchen sie es mit dieser Adresse. Der Zahnputzbecher taugte auch als Weinglas, und das Fernsehprogramm wurde von Satelliten gespeist. Vom Greisinnenmund drückte sie sich weg zu einem Übergrößenkanal. XL-Channel. Amateurfilme für Erwachsene. Am Ufer eines zugefrorenen Waldsees lag eine Frau nackt im Schnee. Ihre Hände und Füße
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