Hohlbein Wolfgang - Die Chronik der Unsterblichen 1
hinabzulassen und Wasser zu schöpfen. Nachdem er seinen ersten Durst gestillt hatte, füllte er das Tongefäß, um
noch einmal in Ruhe zu trinken - bevor er mit seinen gesammelten Schätzen wieder zu Frederic zurückkehren und sich seine ewigen Litaneien anhören mußte. Kein schlechtes Nachtmal, dachte er, vielleicht stimmt das den Jungen etwas friedlicher. In diesen Gedanken hinein legte sich fast sanft eine Hand auf seine Schulter.
In einer blitzschnellen Drehung wirbelte Andrej herum und zog zeitgleich sein Sarazenenschwert. Kampfbereit stand er da, auf alles vorbereitet - oder zumindest auf fast alles. Doch als er seinem Gegner in die Augen sah, kam er sich nur noch lächerlich vor.
Es war Maria, eingehüllt in ein weites Cape, die Kapuze so tief ins Gesicht gezogen, daß er sie nur an ihren fröhlich sprühenden Augen erkannte. »Ich ergebe mich«, rief sie gespielt ängstlich. »Glaube mir bitte, ich habe nichts bei mir, womit ich kämpfen könnte.«
Andrej war die Situation unendlich peinlich. Umständlich ließ er das Sarazenenschwert wieder in die Scheide gleiten. Eine leichte Röte machte sich auf seinem Gesicht breit, was nicht gerade dazu führte, daß er sich besser fühlte.
»Wo kommt Ihr denn her?« fragte er unsicher.
»Das hört sich aber nicht so an, als ob Ihr Euch freuen würdet, mich wiederzusehen«, erwiderte Maria. Mit einer raschen Bewegung zog sie sich die Kapuze vom Kopf, und ihr dunkelbrauner Haarschopf fiel ihr über die Schultern. In ihren Augen funkelte der Schalk. »Heute morgen habt Ihr ja richtig Reißaus vor mir genommen.«
»Das … das hatte nichts mit Euch zu tun«, stammelte Andrej.
»Soso«, machte Maria. »Ihr habt also Geheimnisse. Laßt mich raten: Es geht um eine Frau, habe ich recht?«
»Nein.« Delãny schüttelte so schnell den Kopf, als ob er sie nachhaltig überzeugen wollte. »Es hatte nichts mit einer Frau zu tun. Jedenfalls nicht in dem Sinne, den Ihr meint.«
»Aha«, spottete Maria und zog die Stirn kraus, was den schalkhaften Ausdruck in ihrem Gesicht verstärkte. »Wie habe ich es denn gemeint?«
»Eh … ich weiß nicht«, stotterte Andrej unglücklich, während er spürte, daß sein Gesicht langsam die Farbe einer reifen Tomate annahm. »Heute morgen ging es jedenfalls um Frederics Verwandte.«
»Seine Verwandten müßten doch eigentlich auch die Ihren sein, wenn ich mich nicht täusche«, lächelte Maria zuckersüß.
»Äh … ja. Natürlich.« Andrej spürte, wie ihm immer heißer wurde. »Aber ich habe sie lange nicht mehr gesehen.«
»Soso. Und was seht Ihr jetzt?« Maria trat einen halben Schritt näher heran und stellte sich auf die Zehenspitzen.
»Ich«, krächzte Andrej. Sein Herz schlug ihm bis zum Halse. »Ich sehe…«
»Ja?« forderte ihn Maria mit heiserer Stimme auf. »Was seht Ihr?«
Andrej Gedanken - oder was davon noch übrig war - überschlugen sich. »Seid Ihr«, brachte er schließlich mühsam hervor, »seid Ihr um diese Zeit etwa alleine unterwegs?«
Maria legte den Kopf schief, und ihr erwartungsvolles Lächeln wurde um eine Nuance kühler. »Ihr sprecht wie mein Bruder. Den habe ich aber zu Hause gelassen. Sonst hätte ich mich Euch so nicht nähern und Euch nicht überraschen dürfen. Ich habe mir gedacht, nein, ich wußte, daß ich Euch hier wiedersehen würde. Wo habt Ihr Euren kleinen Neffen gelassen?«
»Der ist in unserer Unterkunft«, antwortete Andrej, während er spürte, wie ihm ein Schweißtropfen die Stirn herunterrann. »Bei unseren Freunden.«
Maria öffnete nun auch noch die Knöpfe ihres Capes und setzte sich auf den Rand des Brunnens. Sie stützte sich rechts und links mit den Armen auf dem Brunnen ab und beugte sich leicht nach vorne, was ihr Dekollete noch mehr betonte. Der Ansatz ihres Busen hob und senkte sich bei jedem Atemzug. Andrej konnte ihr Verhalten nun beim besten Willen nicht mehr als zufällig deuten. Es hatte schon vor Raqi zwei, drei Gelegenheiten gegeben, bei denen er mit einem drallen Bauernmädchen im Heu verschwunden war, nachdem sie ihm schöne Augen gemacht hatten. Aber das hier - das war anders.
Das war der komplette Wahnsinn.
Wie hypnotisiert kam Andrej immer näher und sagte mit leicht belegter Stimme: »Das solltet Ihr lieber nicht machen.«
»Was sollte ich lieber nicht machen, Fremder?« fragte Maria und sah ihm treuherzig entgegen. »Ist es etwa verkehrt, dem tiefsten, innersten Gefühl zu folgen? Ist es etwa verkehrt, dem Schicksal etwas auf die Sprünge zu helfen?«
»Ich … nein.«
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