Hohlbein Wolfgang - Die Chronik der Unsterblichen 1
nicht einmal die Mühe gemacht, seine Waffe zu ziehen, und wahrscheinlich hatte er das auch nicht vor. Andrej begriff instinktiv, daß er von diesem Gegner keinen fairen Kampf erwarten durfte. Er würde einfach abwarten, bis seine Kumpanen Andrej überwältigt oder zumindest weit genug in die Enge getrieben hatten, ehe er dann im entscheidenden Moment zuschlug.
»Gebt auf, Delãny!« forderte Domenicus ihn in scharfem Tonfall auf. »Oder wollt Ihr unbedingt sterben, Ihr Narr?«
Die beiden Männer zur Rechten und Linken des Inquisitors machten keine Anstalten, Andrej anzugreifen. Einer von ihnen hatte Maria ergriffen und hielt sie mit deutlich mehr als sanfter Gewalt fest. Der andere hatte sein Schwert gezogen und sich schützend zwischen Andrej und seinem Herrn postiert. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund versuchten die Söldner, einen Kampf mit Andrej zu vermeiden.
Und plötzlich begriff Delãny schlagartig, warum.
Sie waren nicht allein. Die Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung hatten sich panikartig in Sicherheit gebracht, als die Soldaten ihre Waffen zogen, und bildeten nun eine lebende, mehr als zehn Schritte messende Arena, in deren Zentrum sich Andrej und seine Gegner befanden. Aber es gab Dutzende von Zeugen, wahrscheinlich sogar Hunderte. Weder dem goldenen Ritter noch dem angeblichen Inquisitor konnte daran gelegen sein, daß Andrej hier und jetzt sein Leben aushauchte - sie wollten ihn unter der Folter und dann auf dem Scheiterhaufen sehen.
Auch Delãny hatte sein Schwert bisher nicht gezogen. Er benötigte keine Waffe, um mit einem oder zwei gewöhnlichen Angreifern fertig zu werden.
Hinter ihm erscholl in dieser Sekunde ein keuchender Schrei. Andrej warf einen raschen Blick über die Schulter zurück und erkannte mit schierem Entsetzen, daß sich der vierte Soldat wieder erhoben und Frederic nun doch gepackt hatte. Der Junge wehrte sich nach Kräften, aber er hatte gegen den Erwachsenen natürlich keine Chance. Der hünenhafte Ritter war schräg hinter die beiden getreten und hatte die Hand auf sein Schwert gelegt. Er lächelte kalt. Andrej wägte blitzschnell seine Aussichten ab, den Mann mit einem Schritt zu erreichen und Frederic zu befreien, verwarf diesen Gedanken aber augenblicklich wieder. Der Soldat wäre tot, ehe er richtig begriff, was überhaupt geschah, aber Andrej zweifelte nicht daran, daß der Goldene Frederic, ohne zu zögern, töten würde.
»Gebt auf, Andrej Delãny!« sagte Vater Domenicus noch einmal. »Es ist schon zu viel unschuldiges Blut vergossen worden. Ihr habt mein Wort, daß Euch Gerechtigkeit widerfahren wird.«
Andrej erwog für die Dauer eines Atemzugs, sich statt auf Frederic auf den Geistlichen zu stürzen und ihn als Geisel zu nehmen, um ihn am eigenen Leibe spüren zu lassen, was Gerechtigkeit bedeutete. Aber er verwarf auch diesen Gedanken, allein schon deshalb, weil er auf dem Gesicht des Inquisitors las, daß dieser mit solch einem Versuch rechnete und darauf vorbereitet war. Domenicus war keiner von den Geistlichen, die ihre Tage ausschließlich mit Beten und frommen Exerzitien zubrachten. Andrej erkannte einen Krieger, wenn er ihm in die Augen blickte.
Er sah, aber mehr noch spürte er, wie die drei Männer sich ihm aus verschiedenen Richtungen näherten. Sie wirkten angespannt - sie hatten Angst.
»Jetztl« befahl der hünenhafte goldene Ritter.
Die drei Soldaten sprangen in einer fast perfekt aufeinander abgestimmten Bewegung nach vorne. Andrej wurde klar, daß sie diese Art des koordinierten Angriffs lange geübt hatten; eine Technik, die alles andere als ritterlich, aber dafür um so wirkungsvoller war. Selbst der beste Schwertkämpfer war kaum in der Lage, drei Attakken abzuwehren, die gleichzeitig aus drei verschiedenen Richtungen ausgeführt wurden.
Andrej versuchte es gar nicht erst. Sein Sarazenenschwert sirrte mit einer Bewegung aus der Scheide, die zugleich ein Ziehen und ein Angriff war, und verharrte eine halbe Sekunde reglos an seinem weit vorgestreckten Arm. Die Klinge war so schnell durch Leder und Fleisch geglitten, daß an dem rasiermesserscharfen Stahl nicht einmal ein Tropfen Blut zurückgeblieben war. Der Soldat war bereits tot, nur sein Körper schien das noch nicht bemerkt zu haben: Er torkelte mit vorgestrecktem Schwert weiter auf Andrej zu, und auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck, der zwischen Überraschung und resignierendem Erkennen angesiedelt war, während seine Lederrüstung auseinanderklaffte und den Blick auf seine Brust
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