Hohlbein Wolfgang - Die Chronik der Unsterblichen 1
stoppte seine Bewegung, noch bevor er sie zu Ende führen konnte. Dennoch blieb Maria so abrupt stehen, als hätte er sie zurückgerissen.
»Wartet«, sagte er. »Ich bitte Euch!«
»Wozu?« fragte Maria traurig. »Um mir noch mehr Lügen anzuhören?« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Genügt es Euch nicht, daß mein Bruder sterben wird? Müßt Ihr auch noch sein Ansehen besudeln? Ihr seid nicht besser als Demagyar.«
Andrej verstand den letzten Satz nicht, aber das spielte in diesem Augenblick auch keine Rolle. »Ihr glaubt mir nicht«, sagte er, »und das kann ich verstehen. Aber ich bitte Euch um eines: Geht ins Verlies.«
»Wie bitte?«
»Geht in Demagyars Kerker«, wiederholte Andrej. »Seht Euch die Menschen an, die dort gefangengehalten werden. Redet mit ihnen. Fragt sie, wer sie sind und woher sie kommen.«
»Das … Verlies?« Maria schien wirklich nicht zu wissen, wovon er sprach. Konnte es sein, daß sie überhaupt keine Vorstellung hatte, was ihr Bruder und seine drei Leibwächter getan hatten? Oder hatte sie es vielleicht bislang einfach nicht wissen wollen?
»Geht dort hinunter - falls Demagyar es Euch erlaubt«, bat Andrej noch einmal. »Und falls ich dann noch am Leben bin, kommt zurück, und wir reden weiter. Und … redet bitte nicht mit Kerber und Malthus darüber.«
Maria blickte ihn aus tränenverschleierten Augen an. Sie kämpfte jetzt nicht mehr gegen das Weinen an, unterdrückte aber jeden Laut. Andrej konnte nicht mit letzter Bestimmtheit sagen, warum die Tränen über ihr Gesicht liefen. Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich schließlich um und klopfte leise gegen die Tür, die so schnell geöffnet wurde, als hätte der Mann draußen mit der Hand am Riegel gewartet, und Maria verließ die Zelle.
Andrej blieb in einem Zustand tiefster Verwirrung zurück. Es war wie bei den anderen Zusammentreffen mit ihr gewesen: Marias bloße Gegenwart machte es ihm nahezu unmöglich, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Selbst die wenigen Worte, die er gesprochen hatte, hatten ihn unglaublich viel Kraft gekostet.
Was war das ? Verwirrte Maria ihn nur so sehr, weil sie so vollkommen anders war als ihr Bruder? Oder sprach sie etwas in ihm an, das tiefer ging? Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob er sich in diese junge Frau … nicht wirklich verliebt hatte. Ob sein Gefühl nicht mehr war als nur die Reflexion des Spiels, das sie in einer Nacht voller Zauber und Spontaneität an einem einsamen Brunnen in Constãntã getrieben hatten. Und auch der Gedanke, wie aussichtslos eine solche Liebe wäre, half ihm nicht über seine Verwirrung hinweg.
17
Als es dunkel wurde, brachten ihm seine Bewacher eine weitere Mahlzeit. Andrej verschlang sie mit dem gleichen Heißhunger wie die vorige, ohne jedoch das Gefühl zu haben, auch nur annähernd gesättigt zu sein. Während der letzten Tage hatte er wenig und nur unregelmäßig gegessen, seinem Körper dafür aber um so mehr zugemutet. Zum ersten Mal fragte er sich, wie es wäre, schlichtweg zu verhungern. Aber so wie die Dinge lagen, würde er jetzt wohl nicht mehr in die Verlegenheit kommen, die Antwort auf diese Frage herauszufinden.
Etwas mehr als eine weitere Stunde verging, dann wurden draußen auf dem Gang wieder Schritte laut, und die Tür seiner Zelle wurde abermals geöffnet; drei Männer betraten den Raum, von denen ihn zwei mit ihren Hellebarden bedrohten, während der dritte seine Ketten löste und statt dessen seine Handgelenke mit einem groben Strick zusammenband.
Andrej wurde aus seinem Verlies geführt. Vor der Tür warteten zwei weitere Männer mit grimmigen Gesichtern und gezogenen Waffen auf ihn - Demagyars Soldaten schienen wirklich eine unvorstellbare Furcht vor ihrem Gefangenen zu haben.
Andrej erwartete, daß man ihn wieder in den Gerichtssaal bringen würde, aber statt dessen führten ihn die Männer auf den Hof, wo bereits ein halbes Dutzend aufgezäumter Pferde, der Herzog und ein weiterer Mann, den Andrej erst auf den zweiten Blick als Graf Bathory identifizierte, auf sie warteten. Als Andrej und seine Begleiter die Treppe herunterkamen, schwang sich Demagyar in den Sattel und machte eine winkende Armbewegung zum Tor hin. Andrej hörte, wie das Fallgitter hochgezogen und mindestens einer der großen Torflügel geöffnet wurden.
»Machen wir einen Ausritt?« fragte er.
Einer der Soldaten holte aus, um ihn zu schlagen, aber Graf Bathory hielt ihn mit einer Handbewegung zurück.
»Spart Euch Euren Spott, Delãny«, sagte er.
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