Hohlbein Wolfgang - Die Chronik der Unsterblichen 1
Türkengefahr, oder sollte das wirklich nur darauf zurückzuführen sein, daß sich Ják Demagyar bei seinen Untertanen keiner sonderlich großen Beliebtheit erfreute?
Plötzlich spürte Andrej, daß irgend etwas nicht stimmte. Es war einfach zu still. In den Häusern rechts und links der schmalen Straße, über die sie nun ritten, brannte nicht ein einziges Licht. Die Hufschläge der Pferde ließen metallische, lang nachhallende Echos von den Wänden zurückprallen. Ein fast körperlich spürbares Gefühl von Gefahr lag in der Luft.
Und Andrej schien nicht der einzige zu sein, der dies fühlte. Die beiden Männer rechts und links von ihm wirkten plötzlich ebenfalls äußerst angespannt. Vor allem Demagyar sah immer wieder nervös nach rechts und links, als würde ihn etwas beunruhigen … oder als würde er auf etwas warten.
Dann hörte Andrej ein Sirren. Der Mann links von ihm schrak plötzlich zusammen, hob die Hände und erstarrte mitten in der Bewegung. Aus seiner Brust ragte ein handlanger, gefiederter Bolzen. Für die Dauer eines letzten, qualvollen Atemzuges saß der Soldat noch
stocksteif im Sattel, dann kippte er mit einem kaum hörbaren Seufzen zur Seite und fiel vom Pferd.
In der gleichen Sekunde brach die Hölle los. Weitere Armbrustbolzen zischten heran, und gleichzeitig flogen überall entlang der Straße Türen auf, aus denen Männer in schwarzen Mänteln und mit gezogenen Schwertern ins Freie stürmten.
Andrejs Pferd bäumte sich auf, als ein Armbrustbolzen seinen Hals streifte und einen langen, blutigen Kratzer darauf hinterließ. Er versuchte sich festzuhalten, aber seine gefesselten Hände rutschten am Sattelknauf ab, so daß er rücklings aus dem Sattel kippte. Mit letzter Anstrengung schaffte er es noch, sich im Sturz so zu drehen, daß er, statt auf die Schulter oder gar auf den Schädel zu fallen, nur wie bei einem ungeschickten Sprung schmerzhaft mit dem linken Knie aufschlug.
Einen Sekundenbruchteil später rollte er sich mit einer verzweifelten Bewegung auf dem nassen Kopfsteinpflaster zur Seite, um den wirbelnden Hufen seines Pferdes zu entgehen, und sprang aus der gleichen Bewegung heraus auf die Füße.
Eine Gestalt in einem wehenden schwarzen Mantel drang auf ihn ein. Andrej riß instinktiv die Hände vors Gesicht, aber der Mann zögerte aus einem unerfindlichen Grund, zuzuschlagen, obwohl er das von seiner Position aus ohne Schwierigkeiten hätte tun können. Andrej konnte sich Hemmungen dieser Art in seiner augenblicklichen Lage nicht leisten. Er schleuderte den Angreifer mit einem Fußtritt zu Boden, spürte eine Bewegung hinter sich und warf sich instinktiv zur Seite.
Eine Schwertklinge zischte an seinem Gesicht vorbei und prallte funkensprühend gegen die Wand.
Andrej beendete seine begonnene Drehung und registrierte überrascht, daß ihn einer der Männer des Herzogs attackiert hatte; und seine Verblüffung nahm noch zu, als ihm klar wurde, daß der Mann offenbar absichtlich danebengezielt hatte. Er verschob die Auseinandersetzung mit diesem neuerlichen Rätsel auf später, tänzelte einen Schritt zur Seite und fegte auch diesen Soldaten mit einem Fußtritt zu Boden. Der Mann fiel, ließ sein Schwert fallen und schloß die Augen.
Der Uniformierte war kein besonders guter Schauspieler. Er war weder bewußtlos noch nennenswert verletzt oder gar tot, sondern spielte nur den Bewußtlosen. Andrej verstand nicht, was er damit bezweckte. Der Kampf in der Gasse war so gut wie entschieden. Die Angreifer waren in der Überzahl, und sie hatten im ersten Ansturm fast die Hälfte der herzoglichen Garde ausgeschaltet. Selbst wenn dieser Soldat der größte Feigling unter den Männern des Herzogs war, konnte er durch sein Schauspiel nur verlieren; denn die maskierten Angreifer würden sich zweifellos davon überzeugen, daß ihre Opfer auch wirklich alle tot waren. Die einzige Chance, dieses Gemetzel zu überleben, bestand in einer schnellen Flucht.
Wie es aussah, gab es diese Chance allerdings für Andrej selbst nicht mehr. Ják Demagyar und Graf Bathory verteidigten sich Rücken an Rücken und mit erstaunlichem Erfolg, aber außer ihnen standen nur noch ein einziger Soldat und Andrej selbst auf den Füßen. Die Zahl ihrer Gegner mußte indessen mindestens ein Dutzend betragen. Andrej verstand nicht, weshalb dieser Kampf nicht schon längst vorüber war.
Als hätte dieser Gedanke dem Schicksal ein Stichwort gegeben, fiel in eben dieser Sekunde der letzte von Demagyars Männern, von gleich zwei
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