Hokus Pokus Zuckerkuss
schaue sie warnend an.
»Was ist das?«, donnert Monsieur Henri im vorderen Raum. »Was ist denn das ?«
»O Gott!« Madame Henri verdreht die Augen. »Was ist denn jetzt schon wieder los?«
Wir laufen am Brokatvorhang vorbei und sehen Monsieur Henri auf dem neuen Teppichboden stehen, den Terminkalender an die Brust gepresst, scheinbar einem Schlaganfall nahe.
»Jean!«, ruft seine Frau und eilt zu ihm, leichenblass unter ihrem dezenten, geschmackvollen Makeup. »Was fehlt dir denn? Ist es – dein Herz?«
»Ja, mein Herz!«, stößt er hervor. »Ich glaube, es bricht. So verraten fühle ich mich! Bitte, sag mir, dass ich mir das nur einbilde! Oder hat Mademoiselle Nichols tatsächlich meinen Laden benutzt, um ihre eigenen Brautmodendesigns zu verkaufen?«
Ich starre ihn an, und mir bleibt der Mund offen stehen. Noch nie habe ich ihn so wütend gesehen. Und ich war oft genug dabei, wenn er die Beherrschung verlor, weil arrogante Long-Island-Bräute seine sorgsame Arbeit verunglimpften.
Aber das ist etwas ganz anderes.
»Nur – nur ein paar Mal«, stammle ich. »Für besondere Kundinnen. Nach der Jill-Higgins-Hochzeit. Die hat dem Laden eine so gute PR eingebracht …«
»Dem Laden? Oder Ihnen ?«
»Ach, sei doch still, Jean!«, zischt Madame Henri. »Was für ein melodramatisches Getue! Du solltest
Mademoiselle Elizabeth danken statt sie anzuschreien. Wenn du mit diesem Unsinn nicht aufhörst, setze ich dich ins Auto, so wie früher die Jungs.«
»Ja, ich sollte wirklich zum Auto zurückgehen.« Schon wieder lässt er mutlos die Schultern hängen. »Was soll ich hier? Niemand braucht mich …«
Heißes Mitleid steigt in mir auf. »Natürlich brauchen wir Sie, Monsieur Henri!«, beteuere ich und umarme ihn. »Seit Monaten leite ich den Laden ohne Sie. Aber ich würde mir gern eine Pause gönnen. Nach Ihrem Herzinfarkt hatte ich keinen einzigen freien Tag. Nicht einmal sonntags.«
»Ja, das stimmt«, bekräftigt Tiffany, »und sie will in diesem Sommer heiraten. Darf sie sich einen kurzen Urlaub nehmen, damit sie sich darauf vorbereiten kann? Oh, und sie hat auch ein Recht auf ihre Flitterwochen.«
Ärgerlich runzle ich die Stirn. Warum erinnert sie mich daran, wie viel – eigentlich alles – ich für meine Hochzeit noch vorbereiten muss? Das habe ich wirklich nicht nötig.
»Es ist sinnlos«, ächzt Monsieur Henri. »Hier ist nichts mehr so wie früher.«
Die Arme immer noch um seinen viel zu dünnen Hals gelegt, schaue ich in seine Augen. » Was ist nicht mehr so wie früher, Monsieur Henri?«
»Die Leidenschaft«, seufzt er und wirft den Terminkalender auf Tiffanys Schreibtisch zurück.
Da lasse ich ihn los. »Doch!« Nervös spähe ich zu seiner Frau hinüber. »An Ihrem ersten Tag nach der
langen Krankheit merken Sie es noch nicht. Aber Sie werden es bald spüren, wenn Sie sich wieder eingearbeitet haben.«
»Nein.« Monsieur Henri scheint seinen Blick in weite Fernen zu richten. »Die Brautkleider interessieren mich nicht mehr. Nur eins ist mir noch wichtig.«
Gequält starrt seine Frau zur neu gestrichenen Decke hinauf. »Nicht schon wieder!«
»Oh?« Verwundert ziehe ich die Brauen hoch. »Und was ist das, Monsieur?«
» Pétanque. « Wehmütig starrt er durch das Fenster in das goldene Sonnenlicht, das die Seventy-eighth Street erhellt.
»Wie oft soll ich dir das denn noch sagen?«, faucht Madame Henri. »Das ist kein Beruf, Jean, das ist ein Hobby.«
»Na und?« Ruckartig wendet er seinen Kopf zu ihr. »Ich bin fünfundsechzig! Vor Kurzem habe ich eine vierfache Bypass-Operation überstanden. Darf ich nicht ein bisschen Pétanque spielen, wenn’s mir Spaß macht?«
Als das Telefon klingelt, nimmt Tiffany den Hörer ab und gurrt: »Chez Henri, wie kann ich Ihnen helfen?« Nur ich höre, wie sie sotto voce hinzufügt: »Holt mich irgendwer aus diesem Irrenhaus raus?«
»Jetzt reicht’s.« Madame Henri ergreift ihre Prada-Handtasche. »Eigentlich dachte ich, wir könnten einen angenehmen Tag in der Stadt verbringen und vielleicht in einem gemütlichen Restaurant zu Mittag essen. Aber du hast alles verdorben.«
»Was, ich habe alles verdorben?«, schreit Monsieur Henri. »Habe ich etwa darauf bestanden, wieder zu arbeiten, bevor ich emotional dazu fähig war? Sicher weißt du, was mein Physiotherapeut sagt – ein Schritt nach dem anderen.«
Wütend schüttelt sie ihre kleine Faust vor seinem Gesicht. »Oh, ich werde dir schon noch zeigen, wozu du emotional fähig
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