Hola Chicas!: Auf dem Laufsteg meines Lebens (German Edition)
nichts, atmete einmal tief durch, setzte den Helm auf und stieg auf die Vespa. Der Bruder, offenbar informiert darüber, dass mir Zweiräder, nicht geheuer waren, gab ordentlich Gas und brauste mit Orgito, der sich auf dem Rücksitz an ihn klammerte, davon. Ich presste die Augen zu und schrie mir die Seele aus dem Leib: »Aaaaahhhhh …« Er fuhr so schnell, dass ich dachte: Jetzt kannst du mit deinem Leben abschließen. Nach einer gefühlten Ewigkeit sagte er: »Okay, wir sind da.« Als ich die Augen wieder aufmachte, stellte ich fest, dass wir bloß eine kleine Runde auf der Straße vor dem Haus gefahren waren. Mama, Papa und Christina, die ihren Spaß hatten, nahmen einen völlig erschöpften Jorge in Empfang.
Abgesehen von diesen Schreckmomenten war Italien genau mein Ding: malerisch, luftig, mediterran, bunt und lebensfroh – exakt so, wie Christina es mir immer beschrieben hatte. Eines Abends nahmen wir in Perugia in einem Café auf einer Piazzetta einen Aperitif und beobachteten einfach nur die Leute. Da erlebte ich meine erste Street-Fashion-Show mit italienischen Chicas. Dabei lernte ich die Bedeutung von Accessoires kennen und wie wichtig es ist, die richtigen Dinge passend miteinander zu kombinieren. Die italienischen Chicas trugen wunderschöne Lederhandtaschen, Schals, Halstücher, Schmuck – und High Heels in allen Farben. Egal wie alt sie waren, sie kleideten sich mit viel Geschmack und unvergleichlicher Eleganz.
Weniger ist mehr, lautete die Botschaft der Italienerinnen. Sie trugen schlichte, fast klassische Sachen, zum Beispiel eine Seidenbluse und einen Bleistiftrock in einer dezenten Farbe wie braun, beige, schwarz oder dunkelrot. Dazu kombinierten sie ein, zwei auffälligere Accessoires. Die Schuhe und die Handtasche passten immer zusammen. Diese italienischen Frauen hatten einen ganz natürlichen Look, sie verwendeten nur wenig Make-up – ein bisschen Puder, Lippenstift oder Lipgloss.
Mir gefiel das sehr gut, weil ich bisher nur die üppigen Outfits aus Kuba und aus Prag kannte. Ich war Frauen gewohnt, die mit einem dramatischeren Look auftraten: viel Schminke, viel Schmuck, viel Farbe, viel Absatz. Wo ich herkam, lautete die Devise: Mehr ist mehr. Auch viele tschechoslowakische Frauen toupierten sich damals die Haare und türmten sie mit Unmengen von Haarspray auf. Sie liebten blauen oder grünen Lidschatten und waren eingehüllt in eine Wolke aus süßlichem Parfum. Manchmal bekam ich davon richtige Kopfschmerzen. Und natürlich waren sie behängt mit jeder Menge Bling-Bling: fünf bis sieben Armreife, mindestens vier Ringe an den Fingern jeder Hand, drei bis fünf Goldketten um den Hals, in jedem Ohr mehrere Glitzerstecker oder Kreolen … Man hätte denken können, dass sie ihren gesamten Schmuck auf einmal trugen. Manchmal wusste ich gar nicht mehr, wo ich als Erstes hinschauen sollte, um unter all dem Glitzer und Glimmer die natürliche Schönheit einer Chica zu finden.
Es war immer mein Traum gewesen, die italienische Fashionmetropole Mailand kennenzulernen. Deshalb fuhr ich mit dem italienischen Designer, der zu dieser Zeit in seiner Heimat war und mich bei Christinas Eltern abholte, dorthin. In Italien zu sein und Mailand nicht erlebt zu haben, wäre für mich keine Italienreise gewesen. Ich wollte unbedingt die berühmten italienischen Designergeschäfte sehen, die ich nur aus den Magazinen kannte. Mit großen Augen lief ich durch den Mailänder Fashion District und bewunderte die Auslagen in den Schaufenstern. Stundenlang, Chicas! Besonders spannend fand ich den Businesslook der Mailänderinnen. Diese Frauen, die oft schon älter waren, sahen in ihren Anzügen und High Heels hinreißend sexy aus.
Der Designer unternahm mit mir auch noch eine kleine Tour durch Italien: Wir waren in Rom, in Florenz, in Bologna und in Siena. Dort begegnete ich der ersten Contessa meines Lebens. In meiner Vorstellung, die ja im Wesentlichen von alten Schwarz-Weiß-Filmen geprägt war, trug eine Gräfin lange Seidenroben und Pelze, sie war Luxus und Eleganz pur. In der italienischen Realität aber entpuppte sich die Contessa als eine zauberhafte ältere Dame mit grauem Haar und einem schlichten Blümchenkleid. Eine süße Oma, die zum Küssen war.
Lebenszeichen
Diese Zeit meines Lebens war schön, aufregend und interessant, und doch waren es zugleich meine traurigsten Jahre. Denn während ich die Welt entdeckte und endlich die Bühne meines Lebens betrat, litt meine Familie in Kuba.
Nach dem Fall
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