Hola Chicas!: Auf dem Laufsteg meines Lebens (German Edition)
hieß es, dass sie sich selbst oder dass Mütter ihre Kinder als Prostituierte verkauften.
Aber noch etwas hatte sich in der Krisenzeit geändert: Auf einmal wurden die Homosexuellen auf der Straße nicht mehr mit Steinen beworfen. Der Machismo existierte zwar noch, doch er war nicht mehr so spürbar. Die Leute waren einfach zu beschäftigt mit dem täglichen Überlebenskampf. Homosexualität war auf einmal kein Thema mehr, denn die Menschen litten Not und wussten nicht, ob einem der Schwule aus dem Dorf am nächsten Tag nicht vielleicht helfen würde. Vielleicht hatte der schwule Friseur von nebenan ja Dollars, die er ihnen verkaufen konnte. Also tolerierte man ihn lieber. Die Homosexuellen in Kuba hatten schon so lange kämpfen müssen, daher waren sie sehr geschickt im Überleben. Außerdem arbeiteten viele in kreativen Jobs. Sie konnten den Touristen Dinge oder ihre Dienstleistung verkaufen und bekamen dafür Dollar, die man wieder teuer in Pesos wechseln konnte.
1993 wurde auf dem Internationalen Festival des neuen lateinamerikanischen Films in Havanna der Film eines kubanischen Regisseurs ausgezeichnet: Fresa y Chocolate , ein Titel, der sich auf das gleichnamige Eis der berühmten Eisdiele »Coppelia« bezog, ein »stiller« Treffpunkt der Homosexuellen Havannas. Als Erdbeer und Schokolade ein oder zwei Jahre später in die deutschen Kinos kam, konnte ich es nicht erwarten, ihn zu sehen. Immerhin war es auch mein Thema, das der kubanische Regisseur Tomás Gutiérrez Alea auf die Leinwand brachte: die harte Realität der Homosexuellen in Kuba. Als ich im Kino saß, der Saal langsam dunkel wurde und der Film anfing, kippte ich fast aus dem Sessel, als ich die zwei Hauptdarsteller sah: Mein Gott, die beiden waren mit mir zusammen im Vocacional , im Internat gewesen. Sie waren zwar etwas älter als ich, aber wir kannten uns aus der Theatergruppe.
Während ich das Geschehen auf der Leinwand verfolgte, lief in meinem Kopf parallel der Film meiner eigenen Jugend ab. Denn Erdbeer und Schokolade spielt in Havanna an all den Plätzen, wo ich auf »Reisen« mit Manuel war: in der Altstadt, auf der Calle 23, im »Coppelia«, im Teehaus, im Kino, am Malecón … Und alles, was ich erlebt hatte, wurde in dem Film gezeigt: der Machismo, der Hass auf die Homosexuellen, das Versteckspielen, die Sehnsüchte, die Ängste, die Unterdrückung und der Preis, den man bezahlen musste, wenn man seine persönliche Freiheit leben wollte. Auch der schwule Diego, eine der Hauptfiguren, muss sein Land und alles, was er liebt, verlassen, um er selbst sein und endlich frei atmen zu können.
Ich saß da im Kino und war hin- und hergerissen zwischen Glück, Traurigkeit und Sehnsucht. Siehst du, dachte ich, du bist nicht allein. Es gibt viele, die ein zweites Ich haben und denen es genauso erging wie dir. Aber du hast es geschafft, dir deinen Traum zu erfüllen. Du hast eine neue Heimat in Hamburg gefunden und kannst deine Silbertage genießen. Doch in Kuba waren meine Wurzeln. Dort lebte meine Familie, die ich seit Jahren nicht mehr gesehen hatte und nach der ich mich so sehnte.
Der schönste Moment in meinem Leben
Im Oktober 1997 wurden neue Einreisebestimmungen für im Ausland lebende Kubaner wie mich erlassen. Endlich erhielt ich ein Visum. Einundzwanzig Tage Kuba. Ich war schrecklich nervös, denn ich hatte meine Familie seit 1989 – also über acht Jahre lang – nicht mehr gesehen.
Es wurde eine extrem emotionale Reise. Einige der Familienmitglieder kannte ich so gut wie gar nicht. Den Sohn meines Bruders, hatte ich zuletzt als Zweijährigen gesehen, und nun würde ich einem zehnjährigen Jungen begegnen. Und meine siebenjährige Nichte, die Tochter meiner Schwester, hatte ich noch nie gesehen. Am Telefon hatte ich natürlich mit ihr gesprochen und sofort gespürt, dass sie eine richtige kleine Chica war. Ich wollte immer eine Nichte haben, deshalb brach es mir jedes Mal das Herz, wenn sie am Telefon sagte: » Tío , Onkel, wann kommst du denn endlich?«
Weil ich so nervös war, entschied meine italienische Freundin Christina, »Orgito, ich komme mit«. Sie kam nach Hamburg, sodass wir gemeinsam aufbrechen konnten. Natürlich hatte ich nicht vergessen, welche Späße sich Christina mit mir während unserer gemeinsamen Italienreise erlaubt hatte. Wie ich mich besorgt an meine Reisetasche geklammert hatte, weil ich dachte, alle Italiener seien »Mafiosi«. Und welche Todesängste ich auf der Vespa ihres Bruders ausgestanden hatte.
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