Holst, Evelyn
veralbern?
„Wozu auch immer Sie zu nächtlicher Stunde eine Flasche Alkohol brauchten, Frau Baumgarten, darf ich fragen, ob Sie vorher auch schon getrunken hatten?“ „Ja klar, ein oder zwei Gläser Wein“, es war ihr herausgerutscht, ehe sie es verhindern konnte, aber die ganze Situation kam ihr so unwirklich vor, dass sie nicht wusste, wie sie sich zu ihr verhalten sollte. Sie hatte Marius nach Hause geschickt, um sich um die Kinder zu kümmern, noch vor drei Stunden hatte sie mit ihm am Küchentisch gesessen und nur weil ihr diese blöde Sherryflasche verrutscht war und sie danach gegriffen hatte, saß sie jetzt mit einem eingegipsten Bein im Krankenhaus. Fast hätte sie gekichert, wie immer, wenn sie ihre Nervosität nicht anders in den Griff bekam. „Haben die Kollegen schon eine Blutprobe genommen?“, die Polizistenfrage klang so streng, dass sich Leonie sofort wie eine Verbrecherin fühlte. Sie schüttelte den Kopf: „Es war auch gar kein richtiger Wein, es war Schorle, mit ganz viel Mineralwasser.“ Und dann legte sie die Hände über die Augen und fing bitterlich an zu weinen. Ihre Gefühle liefen einfach Amok.
Der Polizist saß stumm daneben und fühlte sich unbehaglich. „SIE sind ja noch mal glimpflich davon gekommen“, meinte er schließlich, es war als Trost gemeint, als Beschwichtigung. Er hätte sie nicht so hart anfassen sollen. Doch bei seinen Worten zuckte sie heftig zusammen und hätte er sie nicht festgehalten, wäre sie in ihrer Aufregung vermutlich vom Bett gefallen.
„Was ist mit den anderen?“, die Augen waren riesengroß in ihrem bleichen Gesicht, ihre Stimme zitterte. „Was ist mit dem Mann passiert?“
Der Polizist sah sie an. „Er wird gerade operiert. Ich werde mich in den nächsten Tagen noch einmal bei Ihnen melden, Frau Baumgarten. Es gibt da noch ein paar ungeklärte Fragen“, er lächelte knapp, stand auf und ging. Leonie sah ihm nach. Ich muss herausfinden, was mit dem Mann passiert ist, dachte sie, ich muss wissen, was ich ihm angetan habe.
9. Kapitel
Marion von Lehsten hatte das Gefühl, es keine Sekunde länger aushalten zu können. Die Angst, die Hilflosigkeit, das Schuldgefühl – diese explosive Mischung aus unterschiedlichsten Gefühlen, es waren die schlimmsten Stunden ihres Lebens. Sie lief im Besucherzimmer des Unfallkrankenhauses auf und ab wie ein Tier im Käfig und trank Unmengen Kaffee. Ihre Zigarettenschachtel hatte sie trotz strikten Rauchverbotes bereits leer geraucht und den Rauch hastig aus dem geöffneten Fenster gewedelt. Dreimal hatte sie mit Ludwig telefoniert, er war der einzige Mensch, den sie jetzt ertragen konnte, weil er der einzige war, der die Wahrheit wusste. Dass ihr Mann nämlich in dem Moment schwer verunglückt war, in dem sie ihn verlassen wollte. Noch nie hatte sie sich so mies, so schuldig gefühlt wie in diesen Stunden, die sie zitternd, ratlos und verzweifelt auf das Ergebnis der Operation wartete. Dass diese bereits vier Stunden dauerte, war kein gutes Zeichen, soviel war ihr klar.
Ich werde ihn jetzt nicht mehr verlassen können, dachte sie und versuchte, bei diesem Entschluss tief durchzuatmen und sich damit abzufinden, Hendrik braucht mich. Ich bin seine Frau und muss an seiner Seite bleiben. Schließlich war ich nervös und habe ihm ins Lenkrad gegriffen, ich bin mit schuld an seinem Unfall. Deshalb gibt es nur eine Möglichkeit: Ich muss und ich werde ihm zur Seite stehen und auf Ludwig verzichten.
„Vielleicht hat er nur ein paar Knochenbrüche“, hatte sich Ludwig verzweifelt an eine Hoffnung geklammert, die schon längst keine mehr war, „und wenn er in ein paar Wochen erst wieder ganz gesund ist, dann redet ihr.“
„Ja“, hatte sie geflüstert. „Wenn er wieder gesund ist.“ Aber aus den Tiefen ihrer Seele kam eine schwarze Ahnung, dass Ludwig für sie verloren war, für immer. Dieses Opfer würde sie bringen müssen, aus Pflichtgefühl und Anstand. Sie fröstelte. Es war die einzige Möglichkeit, wenn sie weiterhin mit sich leben und sich nicht wie ein Stück Dreck fühlen wollte. Es sei denn, es geschah ein Wunder.
„Frau von Lehsten?“, sie zuckte zusammen, als der Chirurg Dr. Hans Melderis vor ihr stand. „Wie geht es ihm?“, ihr Herz klopfte zum Zerspringen, so musste sich eine Mörderin vor der Urteilsverkündigung fühlen. „Den Umständen entsprechend gut“, sagte der Arzt vorsichtig, so vorsichtig, dass Marion sofort wusste, dass es Komplikationen gegeben haben musste. „Bitte etwas
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