Holst, Evelyn
„Wir wissen es noch nicht“, sagte er. „Gehen Sie jetzt am besten nach Hause und schlafen Sie sich aus. Morgen ist auch noch ein Tag.“ Dr. Hans Melderis lächelte, er drehte sich um, sein weißer Kittel wehte, er war verschwunden. Die Frauen sahen ihm nach, ihre Blicke trafen sich. Was hab ich dieser Frau bloß angetan, dachte Leonie und fühlte ihr Schuldgefühl wie eine feste Faust ums Herz. Marion sah durch Leonie hindurch und nahm sie gar nicht wahr. Sie war in ihrer Welt gefangen, Hendrik und ihr war etwas zugestoßen, von dem sie noch nicht wusste, wie sie sich dazu verhalten sollte. Es war alles so plötzlich gekommen, mit einer solchen Dramatik hatte sich ihr Leben verändert und jetzt war ihre Stellungnahme gefragt, ihre Kraft. Wo sollte sie sie hernehmen, wo sie sich doch so schwach fühlte, so kraft- und mutlos? Aber Hendrik brauchte sie doch auch ... „Wie bitte, was haben Sie gesagt?“, sie wandte ihren Kopf in die Richtung aus der die weibliche Stimme kam. Es war eine sehr junge Frau mit einem Gipsbein, die sie etwas gefragt hatte. Sie hatte nicht zugehört. Was wollte diese Fremde von ihr? „Wo ist es passiert?“, fragte die junge Frau und bevor sich Marion darüber wundern konnte, was sie dies denn anginge, antwortete sie: „In Eppendorf, in der Isestraße, eine betrunkene Radfahrerin. Sie entschuldigen mich.“ Sie ging, ließ die junge Frau stehen und hatte sie im selben Moment wieder vergessen.
Leonie sah ihr nach und dann war ihr klar, was sie tun musste. Sie musste zu ihm gehen. Zu dem Mann, der ihretwegen im Koma lag. Sie musste ihrer Schuld ins Gesicht sehen. Sofort. Sie hatte keine Sekunde mehr zu verlieren. Sie hatte Glück, die breite Doppeltür der Intensivstation war unbewacht, der Waschraum daneben, in dem sich das Klinikpersonal umzog und desinfizierte, war ebenfalls leer. Bevor sie jemand daran hindern konnte, schlüpfte Leonie in Leinenhemd und Hose, die so weit war, dass sie über ihr dickes Bein passte. Über ihre Beschuhung, ein Turnschuh, eine weite Socke, machte sie sich keine Gedanken, sie musste schnell handeln, bevor sie erwischt wurde.
Als sie leise, vorsichtig die breite Tür öffnen wollte, kam Marion von Lehsten heraus. Schnell drehte sich Leonie um, wartete, bis sie außer Sichtweite war. Dann trat sie ein.
Der Anblick der Unfallkranken, die, verbunden wie Mumien und gespickt mit Schläuchen und Kathetern, mit geschlossenen Augen in ihren Krankenbetten lagen, schockierte sie nicht. Ihre Großmutter war vor sechs Jahren an Krebs gestorben, sechs qualvolle Monate lang, in denen sie sie täglich besucht hatte. „Wir werden geboren, wir sterben und dazwischen leben wir, Leonie“, hatte die Todkranke tapfer gesagt. „Ich habe aus meinem Dazwischen das Beste gemacht und ich wünsche dir, dass dir das auch gelingt.“ Kurz darauf war sie gestorben. Mit einem Lächeln.
Es lagen drei Schwerverletzte auf der Intensivstation, zwei davon, soviel konnte sie erkennen, waren Frauen, der dritte ein Mann. Das musste er sein.
Sie lächelte der Krankenschwester zu, die an seinem Bett stand, ihm den Puls abnahm, und in eine Karte eintrug. „Wie geht’s ihm?“, fragte sie, scheinbar beiläufig und war froh, dass niemand merkte, wie laut ihr Herz hämmerte. Die Schwester sah kurz hoch: „Leider gar nicht gut, hoffentlich schafft er die Nacht. Können Sie mal einen Moment übernehmen? Ich muss dringend nach den anderen Patienten sehen.“ Leonie nickte: „Kein Problem“, sie setzte sich auf den Rand des Bettes und betrachtete den Mann, der durch ihre Schuld schwer verletzt worden war. Da er im Koma lag, wirkte er wie ein friedlich Schlafender, aber sie wusste, wie trügerisch dieser Eindruck war.
Hendrik von Lehsten war ein sehr schöner Mann und auch dieser Moment war keine Ausnahme. Er war totenbleich, auch seine Lippen waren weiß und seine Augenlider schienen in der fluoreszierenden Beleuchtung der Intensivstation fast durchsichtig. Seine im normalen Leben immer etwas vorwitzig gelockten Haare kringelten sich schweißnass um sein Gesicht. Er sieht wie ein gefallener Engel aus, dachte Leonie und als sie ihn intensiv betrachtete, geschah etwas Seltsames. Vom Kopf her wusste sie, dass sie etwas Verrücktes und total Verbotenes tat, dass sie sich in die allergrößten Schwierigkeiten bringen konnte. Es war nicht auszudenken, was passierte, wenn sie erwischt würde. Ihr Verstand sagte ihr klar, dass es Wahnsinn war, was sie gerade tat. Trotzdem fühlte sie sich auf
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