Holst, Evelyn
Erich Fried, den Marion ihm vor vielen Jahren einmal geschenkt hatte, in ihrer heißblütigen, sehnsuchtsvollen Anfangszeit, als der Horizont noch unendlich und verheißungsvoll war. Der Abend dämmerte durch die seit ein paar Tagen wieder vereisten Fensterscheiben, die müde Wintersonne flackerte noch einen letzten Abendgruß, kurz schimmerte der Himmel in rosa, orange, dunkelrot, dann war er dunkel. Er suchte ein Gedicht, das auf Leonie passte, weil er es ihr vorlesen wollte, wenn sie ihn besuchte. „Auf deine Brüste zwei Sterne, auf deine Augen zwei Küsse ...“, vielleicht ein bisschen viel für den Anfang, dachte er und unwillkürlich musste er grinsen. Dann fand er sein Lieblingsgedicht auf Seite 11. Es hieß „Ungewiss“. Leise fing er an zu lesen:
Ungewiss
Ich habe Augen
weil ich dich sehe
Ich habe Ohren
weil ich dich höre
Ich habe einen Mund
weil ich dich küsse
Habe ich
dieselben Augen und Ohren ...
„Schon wieder Erich Fried? Bist du verliebt?“, er hatte Marion nicht hereinkommen hören und zuckte zusammen, als sie plötzlich vor ihm stand und ihm den Gedichtband aus der Hand nahm. „Und dann auch noch ‚Ungewiss’“, spöttelte sie und las das Gedicht zuende:
wenn ich dich nicht
sehe und höre
und denselben Mund
wenn ich dich nicht küsse?
Sie schlug das Buch zu und sah ihn an. „Ich habe Neuigkeiten für dich“, sagte sie dann und als er sie erwartungsvoll ansah, fehlten ihr plötzlich die richtigen Worte. „Was denn für Neuigkeiten?“, fragte er, aber seine Stimme klang nicht neugierig. Sie fühlte seine Augen auf sich, ruhige, freundliche Augen und einen kurzen Moment lang war sie irritiert. Sie öffnete den Mund. „Du wirst dich vielleicht wundern ...“, fing sie an. „Oder freuen ...“
„Hallihallohallöle, die Quälerin vom Dienst ist auf der Suche nach ihrem nächsten Opfer.“ Cora Böhm stand im Türrahmen, ein Handtuch über dem Arm und schob einen Rollstuhl auf Hendriks Bett zu. „In einer Stunde haben Sie Ihren Mann wieder“, sagte sie zu Marion. „Aber jetzt brauche ich ihn.“
Verdammter Mist, dachte Marion und unterdrückte ihren aufkeimenden Ärger, jetzt war ich so dicht dran. So dicht. „War es denn wichtig?“, fragte Hendrik, während Cora ihn vorsichtig aus dem Bett in den Rollstuhl hievte. „Ich kann dich auch anrufen“, sagte Marion und war auf einmal über den Aufschub fast etwas erleichtert. „Ja, tu das“, er saß jetzt im Rollstuhl und sie wandte die Augen ab, weil sie diesen Anblick kaum aushalten konnte. Ihr Mann, ein Krüppel, der sich nicht mehr selbst bewegen konnte. Als sich ihre Blicke trafen, wusste sie, dass er sie durchschaut hatte und schämte sich. Was war nur aus ihrem Leben geworden? Ein unbegreiflicher Alptraum.
Sie beugte sich über ihn und küsste ihn auf die Stirn. „Ich melde mich, mach’s gut, bis bald“, fast fluchtartig verließ sie das Krankenzimmer. „Ihre Frau?“, fragte Cora Böhm. „Meine Frau“, bestätigte Hendrik. „Warum fragen Sie?“ Sie schob ihn aus dem Zimmer und er dachte daran, dass er sich nie daran gewöhnen würde, im Rollstuhl zu sitzen. Er hatte Hilflosigkeit immer gehasst, bei anderen und bei sich selbst am meisten. Es war einfach unwürdig.
„Sie liebt Sie nicht mehr“, Cora hatte noch nie etwas von schönen Lügen gehalten, sie sagte immer die Wahrheit, das hatte sie schon in viele Schwierigkeiten gebracht. „Ihre Frau hat nur Mitleid mit Ihnen.“ Sie hatte das Tempo beschleunigt und wirbelte mit dem Rollstuhl durch die hell erleuchteten Reha-Flure. Hendrik wunderte sich ein bisschen, dass er nicht gekränkt oder beleidigt war. Aber warum sollte er das sein, wo sie doch recht hatte. „Nicht so schnell“, rief er. „Mir wird ja schwindelig.“
„Festhalten“, ihre Stimme klang jung, laut und fröhlich. So hatte seine auch mal geklungen, aber das war schon lange her. „Suchen Sie sich am besten eine andere“, fügte sie hinzu. „Das Leben ist zu kurz, um nicht geliebt zu werden.“ Ein wahrer Satz, dachte er und ganz kurz schweiften seine Gedanken zu einer anderen Frau, zu einem anderen Mund, den er noch nicht geküsst hatte, aber vielleicht, ganz vielleicht ... Er rief sich zur Ordnung. „Und Sie meinen, dass das so einfach ist?“, sagte er. „Welche Frau nimmt schon freiwillig einen Krüppel?“
Sie lachte: „Ich würde Sie sofort nehmen, Herr von Lehsten. Aber leider sind Sie ja verheiratet. Und ich habe mir geschworen, nie wieder etwas mit Ehemännern
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