Holst, Evelyn
müde und leicht ungeduldig. „Licht hatten Sie hoffentlich an?“, Leonie sah ihn mit so weit aufgerissenen Augen an, dass er schnell ein: „Sie ahnen ja nicht, wie viele Menschen nachts ohne Licht fahren, kriminell ist das“, hinzu setzte.
Soll ich, soll ich nicht? Leonie kämpfte einen kurzen, heftigen Kampf und entschloss sich dann, hier und jetzt, in diesem grell beleuchteten Zimmer mit den hässlichen Sperrholzmöbeln und dem leicht schwitzenden Polizisten mit der Halbglatze, mit der Wahrheit anzufangen. „Ich bin auch ohne Licht gefahren, meine Lampe war kaputt“, sagte sie und an dem leicht zischenden Laut, mit dem der Polizist die nächste Luft ausstieß, erkannte sie, dass sich in diesem Moment ihre Lage verschlimmert hatte. „Kein Licht also?“, wiederholte er und hielt mit Tippen inne. „Dann möchte ich jetzt nicht in Ihrer Haut stecken. Da kommt sicher noch einiges auf Sie zu.“
Als sie eine Viertelstunde später das Polizeigebäude verließ, konnte sie den Stein auf ihrer Seele körperlich fühlen.
Ein paar Stunden später lag sie mit geschlossenen Augen auf ihrem Sofa und hoffte, dass sich Luna allein beschäftigte. Sie fühlte sich so schwach und leer, jeden Moment würde sie davonfliegen. „Mami?“, Luna konnte eine sehr laute Stimme haben, wenn sie etwas wollte. „Ich bin müde, mein Schatz“, rief Leonie Richtung Kinderzimmer und hoffte auf Aufschub. Sie hatte kein Glück. „Mami, kommst du endlich?“, Luna stand im Türrahmen, mit vor Empörung blitzenden Augen. „Du hast versprochen, mir was vorzulesen.“ Sie stampfte mit ihrem kleinen Fuß auf und sah dabei so niedlich aus, dass Leonie sich aufsetzte und zu einem Lächeln zwang. „Ich komm ja schon, mein Schatz“, sagte sie, eine Minute später saßen sie beide auf dem Sofa, eng aneinandergekuschelt und Leonie las:
„Der schwarze Asphalt flimmerte in der Sonne und Justus trat keuchend in die Pedale. Der Fahrtwind kühlte angenehm sein Gesicht. Das Fahrrad hatte Onkel Titus auf seinem Schrottplatz aus fünf oder sechs kaputten zusammengebaut und so sah es auch aus ...“ Leonie kannte den Text aus Lunas Lieblingsbuch. „Die drei ??? Kids – Panik im Paradies“ fast auswendig, so oft hatte sie ihr diese Geschichte bereits vorgelesen. Deswegen konnte sie auch weiterlesen. „Silber, grünmetallic und teilweise orange...“, als ihr Blick auf einen zweiten Umschlag fiel, der unter die Zeitung gerutscht war ... „Zumindest hatte es eine Dreigangschaltung und das war besser als nichts.“ Sie stand auf, Luna protestierte sofort. „Mama, weiterlesen“, aber Leonie zog den Brief unter der Zeitung hervor, ein schwerer, gefütterter Umschlag, und entzifferte den Absender: Kosack und Partner, Rechtsanwälte. „Ich lese gleich weiter, mein Schatz“, beruhigte sie ihre aufgebrachte Tochter und öffnete den Brief: „Sehr geehrte Frau Baumgarten“, murmelte sie leise vor sich hin. „In der Unfallsache von Lehsten gegen Baumgarten vertrete ich meine Mandanten Marion und Hendrik von Lehsten und möchte Sie bitten, zu einem ersten Gespräch mit Ihrem Anwalt in meine Kanzlei zu kommen. Hochachtungsvoll ...“
Sie hatte es geschafft, nach zwei weiteren Kapiteln ihre Tochter ins Bett zu bringen und dabei die Ruhe zu behalten, obwohl sich ihr Kopf so anfühlte, als wolle er platzen. Und dann saß sie vor ihren Briefen und wusste nicht ein noch aus. Sie hatte keinen Anwalt, weil sie noch nie einen gebraucht hatte. Eine Rechtsschutzversicherung hatte sie natürlich ebenfalls nicht. Also würde sie ohne Anwalt in die Höhle des Löwen gehen müssen. Sie ging in Lunas Schlafzimmer und holte sich einen Malblock von ihrem Kinderschreibtisch. Mach ’ne Liste, das sagte ihre Mutter immer, wenn das Leben über dir zusammenschlägt, musst du alles aufschreiben und Punkt für Punkt abhaken.
Also machte Leonie eine Liste:
1.
Polizei besuchen
2.
Anwalt besuchen
3.
Hendrik die Wahr...
Das Telefon klingelte. Leonie, die nicht an Zufälle, sondern an Schicksal glaubte, ahnte sofort, wer es war. „Hallo“, sagte sie sanft, dann eine Spur lauter. „Ach so, du bist es, Marius, nein, ich habe niemanden erwartet, ich sitze hier vor ..., egal, was willst du?“ Es gelang ihr nicht, den leisen Unterton von Ungeduld aus ihrer Stimme zu verbannen, der jedoch bei seinen nächsten Worten schlagartig umkippte: „Kindergeburtstag? Mensch Marius, das hätte ich fast vergessen, klar kommen wir. Was wünscht er sich denn? SpongeBob was? Keine Ahnung.
Weitere Kostenlose Bücher