Holst, Evelyn
Wort.
„Was willst du mir sagen?“, fragte Hendrik, als ihm das Schweigen zulange dauerte. „Ich bin schwanger, Hendrik“, sagte Marion. „Dr. Sörensen hat es mir bestätigt. Wir bekommen ein Baby.“ Sie hob den Blick und erschrak, als sie in seinen Augen eine Kühle sah, eine Distanziertheit, die sie nicht erwartet hatte.
„Freust du dich denn gar nicht?“, fragte sie. „Wir haben uns doch schon solange ein zweites Kind gewünscht.“ „Wann soll das passiert sein?“, fragte er grob. „Ich kann mich an das letzte Mal zwischen uns überhaupt nicht mehr erinnern.“ Warum sagt er das, dachte sie verzweifelt, warum tut er mir so weh? „Nach deinem Geburtstag“, erwiderte sie tapfer. „Erinnerst du dich nicht? Wir hatten sehr viel getrunken und als die Gäste gegangen waren, da ...“
Er konnte sich an nichts erinnern. Marion hatte eine Überraschungsparty für ihn organisiert, dreißig enge und weniger enge Freunde waren erschienen und hatten auf ihn angestoßen, und er hatte böse Miene zum guten Spiel gemacht, obwohl er viel lieber allein gewesen wäre. Der Alkohol war in Strömen geflossen, ständig hatte ihm jemand ein Glas gereicht und irgendwann im Laufe der Nacht war er auf der Wohnzimmercouch einfach eingeschlafen. Als er aufwachte, schien ihm die Sonne ins übernächtigte Gesicht, er hatte einen Kater in Raubtierdimensionen, daran allerdings erinnerte er sich noch genau, denn sie hatten kein Aspirin zu Hause gehabt. Und noch eins war ihm im Gedächtnis geblieben – die ungewöhnlich gute Laune seiner Frau. Strahlend, gut gelaunt hatte sie mit ihm am Frühstückstisch gesessen und auf seine mürrische Frage „Was grinst du denn so blöd?“ mit „Mir geht’s halt gut“ geantwortet.
„Was ist los, Hendrik, warum sagst du denn nichts?“, ihre Stimme klang besorgt, aber mit genau derjenigen Prise Ungeduld und Kälte, die er in den letzten Jahren zu fürchten gelernt hatte. „Freust du dich gar nicht? Du wirst Vater, verdammt.“
Nie würde er erfahren, welch unendliche Anstrengung es sie kostete, bei seinem Anblick nicht in Tränen auszubrechen, sich in seine Arme zu werfen und ihn um Verzeihung zu bitten. Denn sie allein wusste, dass er in jener Geburtstagsnacht so fest geschlafen hatte, nichts hätte ihn wecken können, schon gar nicht eine leicht beschwipste Ehefrau, die sich leise aus dem Haus und zu ihrem Liebhaber geschlichen hatte. Ludwig hatte schlaftrunken die Tür geöffnet, natürlich hatte er nicht mit ihr gerechnet, ausgerechnet am Geburtstag ihres Ehemannes, aber sie hatte ihn zur Seite geschoben und sich einfach in sein Bett gelegt. „Du hast genau drei Stunden“, hatte sie gelacht. „Mach mit mir, was du willst.“
Und das hatte er. Genau zwei Stunden und achtundfünfzig Minuten lang, dann hatte sie auf die Uhr geschaut und war mit einem erschrockenen „Hoffentlich ist er nicht schon aufgewacht“ aufgesprungen und auf die Straße gelaufen. In dieser Nacht, das wusste sie jetzt, hatten sie ein Kind gezeugt. Ein Kind, das seinen Vater nie kennenlernen würde.
Sie wartete, jetzt still und irgendwie wehrlos, dass Hendrik etwas sagen würde.
„Ich werde Vater“, wiederholte er. „Das ändert natürlich alles.“
„Ja“, erwiderte sie. „Das tut es.“
26. Kapitel
Der freundliche Polizeibeamte, der vor einem Computer saß und im „Zwei-Finger-Suchsystem“ ihre Aussage tippte, runzelte verständnislos die Stirn. „Was um Himmels willen haben Sie denn nachts mit einer Flasche Sherry im Arm auf Ihrem Fahrrad gemacht, Frau Baumgarten?“, Leonie holte tief Luft und erklärte alles noch einmal.
Der schreckliche Tag im Dezember lag erst ein paar Wochen zurück, doch manchmal hatte sie das Gefühl, er sei in einem anderen Leben passiert. „Sherry für was?“, fragte der Beamte und Leonie buchstabierte, ganz langsam, denn sie wollte ihn nicht verärgern: „Z-a-b-a-g-l-i-o-n-e“. „Was soll das sein?“, fragte er und als sie es ihm erklärte und er leicht angewidert das Gesicht verzog – Eiersherry-Schaum? – da dachte sie auf einmal, wie absurd und bösartig das Leben sein konnte, wenn man für eine Nachspeise, die die meisten noch nicht einmal buchstabieren konnten, ein Menschenleben zerstörte. „Und weil ich keinen Fahrradkorb dabei hatte ...“, sie hörte selbst, wie lahm sie klang, und setzte schnell hinzu: „Früher hatte ich hinten einen Kindersitz, aber seitdem meine Tochter Luna selbst ...“ „Ja, ja …“, die Stimme des Polizisten klang
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