Holst, Evelyn
sie mit Sicherheit nicht mit einem goldenen Löffel im Mund geboren worden. Wobei ihre Situation wieder einmal bewies, wie wenig einem goldene Löffel nützen, wenn es das Schicksal schlecht mit einem meint.
„Kann ich bitte gehen?“, fragte Leonie leise. „Nein“, sagte Marion und war selbst erstaunt über sich. „Erst einmal hören Sie sich ganz genau an, was Sie angerichtet haben. DANN können Sie gehen.“ „Aber ich habe doch ...“, wollte Leonie einwenden, eine Handbewegung von Marion brachte sie zum Schweigen. „Ich will Ihnen jetzt einmal ganz genau sagen, was Sie HABEN, Frau Baumgarten.“ Sie stand auf und wanderte im Büro auf und ab, sie brauchte jetzt Bewegung, konnte nicht stillsitzen, während sie Wut, Hass und Ohnmacht durchrasten wie wilde Dämonen. „Sie haben Schuld ...“, schrie sie jetzt so laut, dass Dr. Kosack aufsprang und das geöffnete Fenster wieder schloss. „Sie sind eine Mörde...“, mit einem lauten Seufzer sackte Marion von Lehsten zusammen und sank zu Boden.
28. Kapitel
„Mensch, das fühlt sich doch schon ganz großartig an“, lobte Cora Böhm ihren Lieblingspatienten, und zog sein Bein lang, während sie gleichzeitig seine Füße knetete. „Irgendwie hab ich das Gefühl, da ist mehr Leben drin. Sie nicht auch, Hendrik? Eindeutig mehr Leben.“ Sie lachte, er lachte nicht zurück, weil er mit seinen Gedanken ganz woanders war. „Kommst du noch mal?“, hatte er sie gebeten. „Ich muss dir etwas sagen.“ „Was denn?“, hatte sie zurück gefragt, mit diesem unterdrückten Lächeln in der Stimme, das er so liebte. „Etwas Wichtiges“, mehr wollte er nicht sagen. Mehr konnte er nicht sagen, nicht am Telefon.
Ihm graute vor diesem Gespräch. So sehr, dass er die nette Therapeutin, die sich mit seinen Beinen abmühte, kaum registrierte. „Ja“, sagte er trotzdem, weil sie ihn so fragend ansah. Und dann klopfte es. Und dann klopfte sein Herz noch viel mehr.
„Herein“, rief er. Zum Glück hatte sich Cora bereits erhoben und packte ihre Sachen zusammen. „Also, bis zum nächsten Mal“, an der Tür stieß sie mit Leonie zusammen, die etwas zögerlich eingetreten war. „Derselbe Herr, die nächste Dame“, lachte sie und war verschwunden.
„Hier bin ich“, sagte Leonie und als sie Hendriks Gesicht sah, wusste sie, dass sie das, was er ihr sagen würde, nicht hören wollte. Sie setzte sich auf seine Bettkante, er wich ihrem forschenden Blick aus, sah an ihr vorbei aus dem Fenster. „Leonie“, begann er und verstummte. Sie nahm seine Hand und streichelte sie. „Ja?“, flüsterte sie. „Was willst du mir sagen? Spuck’s einfach aus.“ Er holte tief Luft. „Es ist nicht so einfach“, fing er an. „Aber manchmal gibt es Verwicklungen, die ...“ Sie sagte jetzt nichts mehr, wartete einfach nur ab. Aus Erfahrung wusste sie, dass Männer schneller redeten, wenn man sie in Ruhe ließ, nicht ständig in sie drang. Doch als die Stille zu lange dauerte, zog sie ihre Hand weg. „Es ist etwas Schlimmes, nicht wahr?“, fragte sie und spürte, wie ihr das Herz bis zum Hals klopfte. „Ja“, sagte er nur und als er sie jetzt ansah, ertrank sie in der Traurigkeit seiner Augen. „Sag es endlich, Hendrik. Spann mich bitte nicht länger auf die Folter.“ „Meine Frau ist schwanger“, sagte er. „Ich werde Vater.“
Sie hörten nicht, wie die Tür aufging. Sie sahen nicht, wie die große, schlanke Frau ins Zimmer trat. Sie waren nur mit sich beschäftigt. „Es tut mir alles so unendlich leid“, sagte er und sie erwiderte mit einem traurigen Lächeln: „Du hast mir nie gehört, Hendrik. Ich hatte dich nur geliehen. Nur für eine ganz kurze Zeit. Aber es war die schönste Zeit meines Lebens.“
Marion von Lehsten wusste hinterher nicht mehr, was im Einzelnen abgelaufen war. Sie erinnerte sich nur an einen fast raubtierhaften Schrei, der aus ihrer Kehle herausgesprungen war wie ein wildes Tier. „Sie scheuen auch wirklich vor nichts zurück“, mit diesen Worten hatte sie Leonie an der Kehle gepackt und mit einer Kraft, die sie gar nicht in sich vermutet hatte, vom Bett auf den Boden geschleudert: „Was unterstehen Sie sich, Frau Baumgarten? Schrecken Sie denn vor gar nichts zurück?“
Atemlose Stille. Keiner sagte ein Wort. Leonie suchte nach Worten, sie fand keine. Ihr Herz war ein harter, kalter Klumpen Furcht und Panik. „Darf ich fragen, was hier eigentlich los ist?“, fragte Hendrik und sah von einer Frau zur anderen. „Was macht diese Frau an
Weitere Kostenlose Bücher