Holst, Evelyn
worauf Sie sich wohl gefasst machen müssen.“
Marion kühlte ihr heißes Gesicht am laufenden Wasserhahn und betrachtete sich anschließend im Spiegel. Ich sehe schrecklich aus, dachte sie, ich muss mich jetzt sehr zusammenreißen, damit ich nicht vor allen zusammenbreche. Sie straffte die Schultern und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Auf in den Kampf, Marion.
„Tut mir leid“, murmelte sie, als sie sich wieder setzte. Mit einem kurzen Seitenblick stellte sie fest, dass Leonie geweint haben musste. Geschieht ihr recht, dachte sie, ich habe Tränen genug geweint. „Sie werden mit einer beträchtlichen Schadensersatzforderung rechnen müssen“, sagte Dr. Kosack gerade. „Allein der Verdienstausfall des Unfallgeschädigten liegt vermutlich im sechsstelligen Bereich. Ein wichtiger Fernsehauftrag ist geplatzt ...“, er machte eine kleine, dramatische Pause. „Haben Sie eine Vorstellung davon, wie Sie das schaffen könnten?“ Leonie räusperte sich: „Ich hab noch etwas auf dem Sparkonto“, flüsterte sie. „Von meiner Oma. Für Notfälle.“ Der Anwalt blätterte in seinen Unterlagen. „Dann werden Sie die vermutlich angreifen müssen, Frau Baumgarten“, sagte er. „Denn durch Ihre Unachtsamkeit haben Sie meinem Mandanten und seiner Frau ja nicht nur finanziellen Schaden ...“ „Ich weiß, was ich getan habe“, unterbrach ihn Leonie und sah Marion von Lehsten an. „Und ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid es mir tut.“
Marion zwang sich, Leonies Blick zu erwidern, obwohl sie ihm gern ausgewichen wäre. Ein hübsches Mädchen, dachte sie und spürte, wie fast etwas wie Mitleid in ihr hochstieg. Sie sah so blass und traurig aus. Ob es überhaupt sinnvoll war, gerichtlich gegen sie vorzugehen, es war ja offensichtlich, dass bei ihr vermutlich wenig zu holen war. Andererseits spürte Marion durchaus ein starkes Bedürfnis nach Rache. Ein sehr starkes, wenn sie daran dachte, wie anders ihr Leben jetzt wäre, wenn diese junge, unglückliche Frau, die jetzt ein verschwitztes Taschentuch in den Händen knetete, in jener Unglücksnacht Licht an ihrem verdammten Rad gehabt hätte, dann wäre es nicht so ein fataler Fehler von Hendrik gewesen, sich nicht anzuschnallen. Aber diese trüben Spekulationen waren jetzt müßig. Mein Leben liegt in Scherben vor mir, dachte Marion und es gelang ihr nicht, die rasende Wut zu bändigen, die sie bei der Vorstellung durchströmte, wie es wäre, wenn sie jetzt in Ludwigs Armen liegen könnte, friedlich von Hendrik getrennt, wie zufrieden und entspannt sie ihre Schwangerschaft genießen würde. „Mir tut es auch leid“, rief sie und in ihren Augen lag die ganze Wucht ihrer Verzweiflung. „Aber im Gegensatz zu Ihnen muss ich damit leben, dass Sie etwas getan haben, das Ihnen ...“, jetzt schrie sie, wütend, unglücklich, „jetzt so LEID tut. Dass mein Mann, wenn kein Wunder geschieht, den Rest seines Lebens im Rollstuhl verbringen muss, ein armer Krüppel. Dass unser ...“ Sie verstummte, gerade noch rechtzeitig. Baby hätte sie fast gesagt und damit etwas öffentlich gemacht, was sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht öffentlich machen wollte, obwohl sich langsam ein kleines Bäuchlein unter ihrem sehr eng geschnittenen Designerkostüm abzeichnete. Aber das wusste nur sie. Und noch eins wusste sie. Dass sie dieser Frau, die sich jetzt eine Träne aus den Augenwinkeln wischte und dann mit ihrem Taschentuch nachtupfte, nie verzeihen würde. Nie.
„Ich glaube, dass Sie sich so schnell wie möglich nach einem Anwalt umsehen sollten“, die Stimme des Anwalts klang etwas hilflos und auch etwas genervt, denn die Schadenssumme, die seiner Mandantin vorgeschwebt hatte, war so illusorisch, dass sich die ganze Sache für ihn kaum lohnte. Wäre nicht Marion von Lehsten Mitglied seines Golfclubs und ihr leider verstorbener Vater bereits ein wertvoller Mandant gewesen, vermutlich hätte er das Mandat gar nicht angenommen. Einer armen Frau in die Tasche zu greifen, war weder lukrativ noch sonst wie lohnend. Aber wenn der Unfall ein gerichtliches Nachspiel haben würde, und das war zu erwarten, dann war er natürlich in der anwaltlichen Pflicht.
Dr. Kosack seufzte und warf einen Blick auf die beiden Frauen, die vor ihm saßen und unterschiedlicher nicht hätten sein können. Zart und blass die eine, vom Leben sicher nie verwöhnt gewesen. Er wusste, dass sie Kindergärtnerin und allein erziehende Mutter war – im Gegensatz zu seiner Mandantin Marion von Lehsten war
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