Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5
und schaute auf die Uhr.
»Sie dürfen noch nicht gehen. Ich habe Ihnen doch noch nicht gesagt, was Sie
wissen müssen. Sie müssen mehr Geduld haben, Hanne Wilhelmsen. Sie sind
eine ungeduldige Seele, das sehe ich Ihnen an. Aber gehen Sie nicht.«
»Nicht doch«, sie lächelte schwach. »Noch nicht. Aber ich kann wirklich nicht
lange bleiben.«
»Verstehen Sie, ich habe Sie gesucht«, erklärte er beim Abräumen. »Naja,
nicht direkt Sie, aber einen Menschen bei der Polizei, zu dem ich Vertrauen
haben kann.«
Plötzlich knallte er die Teller auf den Tisch und beugte den Oberkörper vor.
»Wissen Sie, wie lange es gedauert hat?« fragte er.
Seine Stimme hatte einen neuen Klang angenommen, einen Zorn, der sie tiefer
werden ließ.
»Von dem Moment an, als ich mir die Ohren abgeschnitten und von den
immer neuen Verbrechen meines Pflegevaters erzählt habe, bis die
Ermittlungen dann abgeschlossen waren?«
»Nein. Ich kenne die Einzelheiten Ihres Falls nicht.«
»Drei Jahre. Drei Jahre! Vier Psychologen haben mich untersucht. Alle kamen
zu dem Ergebnis, daß ich die Wahrheit gesagt hatte. Außerdem mußte ich mit
hocherhobenem Hintern auf einem Untersuchungstisch knien, umgeben von
Kittelträgern, die mir vorher nicht einmal guten Tag gesagt hatten. Sie
begrapschten Teile von mir, die mir gehören sollten. Nur mir! Was sie nie
getan haben, natürlich. Ich bin mir selbst immer wieder gestohlen worden, so
weit ich mich zurückerinnern kann. Da kniete ich also mit hocherhobenem
Hintern und konnte nicht einmal weinen. Ich war dreizehn Jahre alt, und das
Urteil der Arzte erfolgte ein
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stimmig: Massiver Mißbrauch über viele Jahre hinweg. Ich war dreizehn!«
Eivind Torsvik ließ sich wieder auf seinen Stuhl sinken und strich sich müde
über die Augen.
»Aber trotzdem dauerte es drei Jahre, bis der Fall zur Anklage kam«, fügte er
leise hinzu.
Hanne hätte gern etwas gesagt. Eivind Torsviks Geschichte war ihr nicht neu.
Sie hatte sie gesehen, gehört, erlebt. Zu oft. Sie suchte nach Worten, konnte
aber nichts sagen. Statt dessen legte sie vorsichtig die Hand auf den Tisch.
»Und das Urteil, das dann endlich gefällt wurde, war einfach nur lächerlich.«
Er holte tief Luft und hielt dann so lange den Atem an, daß eine leichte Röte
sich über seine Wangen ausbreitete. Zum ersten Mal ahnte Hanne in seinem
Gesicht etwas von einem erwachsenen Mann. Der Engel war verschwunden.
Vor ihr saß ein Mann von Mitte zwanzig, der alles verloren hatte, noch ehe er
erwachsen geworden war.
»Wir sind alle Opfer«, sagte er nach einer langen Pause. »Alle bei den Angels
of Protection. Wir weihen unser Leben der Aufgabe, sie zu finden. Die
Vergewaltiger. Die Päderasten. Die Seelendiebe. Wir sind nicht an Grenzen
gebunden. Nicht an Regeln. Die Sexualverbrecher kennen keine Gesetze, und
sie können nur unter denselben Bedingungen bekämpft werden. Wir
überwachen. Wir spionieren. Wir finden sie im Internet. Die meisten können
die Finger nicht von der Flut an Kinderpornos lassen, die es dort gibt.
Idioten.«
»Aber wie macht ihr das?«
Hanne empfand eine Neugier, von der sie eigentlich nichts wissen wollte.
»Wir haben unsere Methoden«, sagte Eivind Torsvik. »Wir haben viele, die im
Feld arbeiten. Die jahrelang verfolgt und ermittelt haben. Wir bewegen uns
wie Schatten
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durch eine der Polizei unbekannte Landschaft. Wir dagegen sind dort geboren
und aufgewachsen. Uns fällt es nicht besonders schwer, einen Pädophilen zu
erkennen. Wir haben mit ihnen gelebt. Wir alle.«
Er zeigte auf den Computer vor dem Fenster.
»Ich selbst bewege mich nie nach draußen. Ich halte mich ans Net. Da liegt
meine Aufgabe. Außerdem systematisiere ich. Lege das Puzzlespiel zusammen.
Und das besteht aus vielen Stücken. Manche sind winzig klein. Aber am Ende
ergibt sich ein Bild. Und wenn es soweit ist, was nicht mehr lange dauern wird,
gehen wir zur Polizei. Im Moment habe ich eine Liste von...«
Er legte seine Hand nur fünf Zentimeter neben Hannes.
»... von elf Norwegern, die systematisch Kinder vergewaltigt haben und von
denen die Polizei nicht die geringste Ahnung hat.«
»Aber ihr müßt...«, sagte Hanne. »Warum habt ihr... wollt ihr...«
Eivind Torsviks Mitteilungen waren sensationell.
Hanne Wilhelmsen hatte oft gerüchteweise von solchen Organisationen
gehört, wie er sie hier beschrieben hatte. Doch sie hatte das immer als Unfug
abgetan. Es war unmöglich. Es hatte unmöglich
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