Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5
fragte er mit geschlossenen Augen.
»Wie habt ihr das geschafft?« fragte sie leise. »Das habe ich doch erklärt.
Durch Spionieren. Ermittlungen. Über Jahre.«
»Trotzdem. Das alles. Woher in aller Welt habt ihr das alles?« Er lächelte und
schaute sie an. »Hilft Ihnen das?«
Hanne wußte nicht, was sie antworten sollte. Wenn Evald Bromo wegen seiner
perversen sexuellen Neigungen umgebracht worden war, dann begriff sie
nicht, wie das mit dem Mord an Doris Flo Halvorsrud zusammenhängen
sollte. Nichts, rein gar nichts legte die Annahme nahe, die Frau des
Oberstaatsanwalts sei pädophil gewesen.
»Weiß nicht«, sagte sie endlich.
Thea.
Thea! Hanne verschluckte sich am Rauch und hustete. Sie stand so heftig auf,
daß ihr Sessel umkippte. Er knallte gegen eine Vitrine. Die Türscheibe bekam
einen Sprung.
»Wer steht sonst noch auf Ihrer Liste?«
Eivind Torsvik hob abwehrend die Hände.
»Sie haben den Ordner über Evald Bromo bekommen, weil er tot ist. Wir
können ihn nicht mehr erreichen. Über die anderen auf der Liste erfahren Sie
dagegen nichts. Nicht, solange wir noch daran arbeiten. Aber es dauert nicht
mehr lange.«
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»Wie lange?«
Hanne hörte, wie ihre Stimme brach.
»Das kann ich nicht so genau sagen. Einen Monat vielleicht. Oder ein halbes
Jahr. Es ist noch zu früh, um das genau zu wissen.«
Sie richtete den Sessel wieder auf und stellte ihn an seine alte Stelle. Dann ließ sie die Finger über den langen Spalt wandern, der die Glasscheibe in der Tür
teilte.
»Aber eins müssen Sie mir sagen.«
Sie trat auf ihn zu, ging neben seinem Sessel in die Hocke und stützte sich mit
den Ellbogen auf die Armlehne.
»Steht Sigurd Halvorsrud auf der Liste? Ist auch Halvorsrud pädophil?«
Seine Augen waren nicht mehr dieselben. Hanne hatte mit diesem jungen
Mann Verbundenheit gespürt. Sie hatte ihn erkannt, im Grunde hatte sie in
den blauen Augen mit dem markanten schwarzen Rand um die Iris etwas von
sich selbst wiedererkannt. Jetzt war er ein Fremder.
»Mehr erfahren Sie nicht«, sagte er hart.
Hanne wandte sich ab und richtete sich mühsam auf.
»Dann haben Sie vielen Dank für alles«, sagte sie. »Das Essen und den Tee
und... alles.«
Als sie ihre amerikanische Hirschlederjacke mit der Perlenstickerei und den
Fransen am Brustteil angezogen hatte, holte sie eine Visitenkarte und einen
Kugelschreiber hervor. Rasch kritzelte sie ihre Privatnummer auf die Rück-
seite der Karte.
»Rufen Sie mich an, wenn Sie mir etwas sagen möchten«, bat sie und reichte
ihm die Karte. »Egal, wann.«
»Das werde ich wohl tun. Früher oder später.«
Hanne hatte heimlich fünfhundert Kronen auf den Küchentisch gelegt. Sie
hoffte, daß er begreifen würde, daß das Geld für eine neue Türscheibe in der
Vitrine gedacht war. Als sie langsam über den holprigen Weg fuhr, konnte
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sie ihn im Spiegel sehen. Er stand oben auf der Felskuppe neben dem Haus,
hatte sich eine Decke um die Schultern gelegt und starrte hinter ihr her. Dann
bog sie um eine Ecke, und Eivind Torsvik war verschwunden.
22
»Wo zum Teufel hast du denn gesteckt?«
Billy Ts wütende Stimme tat ihrem Ohr weh. Hanne hatte eben die E 18
erreicht, als ihr einfiel, daß ihr Handy seit ihrer Abfahrt von Oslo ausgeschaltet gewesen war. Jetzt konnte sie gerade noch registrieren, daß inzwischen acht
Anrufe eingelaufen waren, als das Telefon losfiepte.
»Du hast gesagt, ich soll anrufen«,brüllte Billy T. »Und seit Stunden tu ich
verdammt nochmal nichts anderes. Es ist gleich acht, zum Henker!«
»Reg dich ab«, murmelte Hanne. »Ist jemand gestorben oder was?«
»Ja. Stäle Salvesen.«
Hanne verlor fast das Lenkrad aus den Händen. Dann bremste sie energisch,
fuhr auf den Seitenstreifen und schaltete den Notblinker ein.
»Was hast du gesagt? Stäle Salvesen?«
»Ja! Und du hast gesagt, ich solle anrufen, und dann...«
»Hör auf, Billy T. Tut mir leid. Hab das Telefon vergessen. Ist Salvesen tot?«
»Das glauben wir. Zwei Jungs haben heute morgen eine ziemlich übel
zugerichtete Leiche aus dem Fjord gefischt. Wir haben schon Salvesens
Zahnarzt ausfindig gemacht. Die vorläufige Identifikation soll heute abend so
gegen zehn vorliegen.«
Hanne Wilhelmsen rieb sich den Nacken. Drei Tage fast
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ohne Schlaf machten das Weiterfahren unverantwortlich. Ihr wurde schwarz
vor Augen, und sie schlug sich energisch auf die rechte Wange.
»Ich bin in anderthalb Stunden oder so bei dir.«
»Und noch
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