Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5
gelebt habe, über das man schreiben kann«, sagte er und
lächelte erstaunt, als habe er gerade erst eine lange gesuchte Erklärung
gefunden. »Ich schreibe nie über mich selbst. Und doch tue ich das die ganze
Zeit. Die Bücher handeln von gelebtem Leben. Ich habe, bis ich achtzehn
wurde, mehr gelebt als die meisten anderen. Danach war Schluß. Ich habe
einen Mann umgebracht und mich seither damit abgefunden, daß das eine
Leben, das mir zugeteilt worden ist, ein Ende genommen hat.«
Hanne goß sich aus einer Thermoskanne, die zwischen ihnen auf den
Steinplatten stand, noch mehr Tee ein. Sie öffnete den Mund zum
Widerspruch.
»Ich meine damit nicht, daß ich wertlos wäre«, sagte er energisch und kam ihr
zuvor. »Im Gegenteil. Meine Bücher machen vielen Menschen Freude. Und
auch mir selbst. Wenn ich schreibe, stehle ich ein Leben, das nicht mir gehört.
Gleichzeitig gebe ich anderen etwas, was ich lange Zeit nicht für möglich
gehalten hätte. Das Bücherschreiben kann durchaus zufriedenstellen.
Glücklich jedoch wird man nicht davon. Ich habe...«
Er legte den Kopf schräg, schob sich die Brille wieder auf die Nase und ließ
sich auf seinem Stuhl zurücksinken.
»Sie kennen meine Geschichte. Ich will Sie damit nicht belästigen. Aber ich
war noch nicht sehr alt, als mir aufging, daß ich die Fähigkeit verloren hatte,
mich anderen Menschen anzuschließen. >Reduzierte Bindungsfähigkeit«. So
haben die Psychologen in ihren zahllosen Berichten über mich das
ausgedrückt.«
Er zog sich die Decke fester um die Schultern.
»Sie ahnen nicht einmal, was das ist.«
Hanne konnte sehen, wie ein leichtes Zittern über seinen Arm lief. Seine
Gesichtshaut war blaß, und sein einer Nasenflügel zuckte.
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»Genug davon«, sagte er leichthin und versuchte, die Decke vor seiner Brust
zu verknoten. »Nicht deshalb habe ich Sie hergebeten. Ich schreibe nicht nur
Bücher. Ich beschäftige mich auch mit etwas sehr viel Wichtigerem. Erinnern
Sie sich an Belgien?«
»Belgien«, wiederholte Hanne. »Dioxine und Belgischblau. Korruption und
Kinderschänder. Politische Morde. Salmonellen und Importverbot. Belgien:
ein wunderschönes Land im Herzen Europas.«
Sie schaute verstohlen zu ihm hinüber. Er lächelte nicht. Verlegen ließ sie
ihren Blick zum Fjord weiterwandern. Die lachenden Jungen waren in ein
Ruderboot gesprungen und amüsierten sich damit, im Kreis zu rudern.
»Marc Dutroux«, sagte Eivind Torsvik vor sich hin. »Erinnern Sie sich an
den?«
Natürlich erinnerte sie sich an Marc Dutroux, das »Ungeheuer von Charleroi«.
Die Götter mochten wissen, wie viele Leben er auf dem Gewissen hatte,
buchstäblich und auch im übertragenen Sinn. Der Pädophilieskandal, der im
Spätsommer und Herbst 1996 über Belgien hereingebrochen war, hatte die
ganze Welt schockiert. Massenverhaftungen erfolgten, als immer neue Leichen
von kleinen und großen Kindern in Gärten ausgegraben oder verhungert und
in Kellern eingemauert aufgefunden wurden. Schließlich hatte sich das Bild
eines umfassenden Pädophilenrings abgezeichnet, und es war gegen
Polizisten, Richter und eine Handvoll einflußreicher Politiker ermittelt
worden.
»Das Schlimmste an der Sache war nicht, daß Marc Dutroux offenbar von
mächtigen Gönnern beschützt wurde«, sagte Eivind Torsvik. »Bei der
Pädophilie gibt es keine soziale Trennung. Es gibt auch keine Grenzen
hinsichtlich der Mittel, zu denen Menschen greifen, deren Existenz bedroht
ist. Es gibt überhaupt keine Grenzen. Nein, das Allerschlimmste war...«
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Er goß seinen lauwarmen Tee auf die Steinplatten. Die Flüssigkeit malte ein
dunkles Muster auf den grauen Untergrund. Der Fleck sah aus wie ein Krebs
mit drei Scheren, und Eivind Torsvik betrachtete das Bild aufmerksam und
klopfte leise mit den Fingern an die leere Tasse.
»Das Gefährlichste ist, daß das System nachgibt. Marc Dutroux war
vorbestraft. Er war wegen einer Serie von Vergewaltigungen zu dreizehn
Jahren Haft verurteilt worden. Wissen Sie, wie lange er gesessen hat?«
»Sieben oder acht Jahre?« Hanne zuckte mit den Schultern.
»Drei. Nach drei Jahren haben sie ihn laufenlassen. Wegen guter Führung.
Guter Führung! Ha!« Er sprang auf.
»Es wird hier langsam kühl. Ich friere sehr leicht. Macht es Ihnen etwas aus,
wenn wir ins Haus gehen?«
Hanne begriff nicht, wieso der Mann frieren konnte. Es waren bestimmt
fünfzehn Grad, und Eivind Torsvik hatte sich während des
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