Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5
zu sein. Natürlich litt die Poli-
zei unter Stelleneinsparungen, dem trägen System, strafrechtlichen Sperren
und außerdem ziemlicher Unfähigkeit, aber immerhin hatte sie das Gesetz auf
ihrer Seite. Sie hatten ein System. Kompetenz. Daß einzelne Menschen den
Löffel in die eigene Hand nahmen, wenn der Arm des Gesetzes zu kurz war,
war ihr durchaus nicht unbekannt. Mitte der neunziger Jahre hatte sie selbst
in einem Vergewaltigungsfall ermittelt, bei dem Vater und Tochter nachdrück-
lich für das zerstörte Leben der Tochter Rache geübt hatten. Beide waren
freigesprochen worden, was niemandem bei der Polizei schlaflose Nächte
bereitet hatte.
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»Aber eine ganze Organisation«, sagte sie plötzlich. »Ihr müßt doch am Rand
der Gesetze balancieren? Oder sie sogar brechen?«
»Ja«, sagte Eivind Torsvik ehrlich. »Wir brechen sie, wenn es sein muß. Unter
anderem hören wir Telefone ab. Nicht oft. Das ist schwer zu deichseln,
zumindest in Norwegen.«
»Das dürfen Sie mir nicht erzählen.«
Sie legte ihre Hand auf seine. Seine Hand war kühl und schmal, sie spürte die
Fingerknöchel unter ihrer Handfläche.
»Sprechen Sie nicht weiter«, sagte sie verbissen. »Ich will das nicht wissen.«
»Ganz ruhig. Das Material, das wir der Polizei übergeben werden, wenn die
Zeit reif ist, wird unangreifbar sein. Zeugenaussagen und überhaupt. Wenn
wir zu Gesetzesbrüchen greifen, dann nur... aus Ermittlungsgründen? Nennen
Sie das nicht so?«
Jetzt lachte er wieder dieses Stakkatolachen, das Hanne nicht hören konnte,
ohne zu lächeln. Er wirkte jetzt munterer und zog seine Hand zurück.
»Und Sie werden uns natürlich nicht verraten.«
Hanne hielt sich die Ohren zu.
»Ich will nichts mehr hören. Ich will nichts mehr hören, ist das klar?«
»Evald Bromo hat sein ganzes Erwachsenenleben hindurch kleine Mädchen
mißbraucht.«
Langsam ließ Hanne Wilhelmsen die Hände sinken. Ihre Ohren sausten, und
sie schluckte mehrere Male.
»Was sagen Sie da?«
»Evald Bromo war pädophil. Er hat viele Jahre hindurch von Mädchen bis
hinunter zu zehn Jahren Sex gekauft und gestohlen. Vor allem gekauft,
allerdings. Das muß man ihm lassen.«
Seine Lippen strafften sich, er sah aus, als habe ein Kind
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ihm mit Filzstift einen Mund aufgemalt. Er erhob sich und zog aus einem
Aktenschrank neben dem Computer einen Ordner. Der Ordner war grün und
durchscheinend.
»Hier«, sagte er. »Das ist für Sie. Post mortem kann er ja nicht mehr verurteilt werden. Als ich im Net von dem Mord an Bromo gelesen habe, habe ich das
zusammengetragen, was wir über den Kerl wissen. Das bekommen Sie. Aber es
ist nur für Sie. Als Hilfe auf der Suche nach dem Mörder. Sie können das alles
natürlich nur als Hintergrundmaterial für Ihre weiteren Ermittlungen nutzen.
Und ich wäre sehr dankbar, wenn Sie nach dem Lesen alles vernichten
würden.«
Hanne starrte die grüne Mappe an, als liege ein ausgewachsener Skorpion auf
der Tischdecke.
»Ich kann nicht«, keuchte sie. »Ich kann nichts annehmen, was ich meinen
Kollegen nicht zeigen darf.«
»Dann lesen Sie hier.«
Er sprang wieder auf und griff zu Besteck und Geschirr.
»Jetzt räume ich ab und stelle neues Teewasser auf. Der Tee hat Ihnen doch
geschmeckt? Gut. Rauchen Sie eine Zigarette und lesen Sie, was dort liegt.«
Er nickte zu dem Ordner hinüber. Dann schob er ihr den Aschenbecher zu und
ging in die Küche.
Hanne Wilhelmsen ertappte sich dabei, daß sie sich Plastikhandschuhe
wünschte. Der Ordner, der vor ihr lag, enthielt Informationen, die
entscheidend für die Aufklärung des Mordes an Evald Bromo sein konnten.
Am liebsten hätte sie das Gummiband, mit dem der Ordner verschlossen war,
sofort abgestreift und sich über den Inhalt hergemacht. Gleichzeitig
widersprach das all ihren Prinzipien. Eivind Torsvik leitete eine Organisation,
die zur Selbstjustiz griff. Hanne Wilhelmsen war bei der Polizei.
Sie griff sich in die Brusttasche und zog eine Zigarette heraus. Sie gab sich
Feuer und blies den Rauch langsam zu
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dem verbotenen Ordner hinüber. Dann riß sie das Gummi herunter.
Sie brauchte etwas über eine halbe Stunde, um alles genau zu lesen, die
Papiere wieder zusammenzulegen und das Gummiband darüberzuziehen, ehe
sie dann alles wegschob. Sie nahm sich eine dritte Zigarette und registrierte
kaum, daß Eivind Torsvik aus der Küche gekommen war, in einem Sessel saß
und zu schlafen schien.
»Hilft Ihnen das weiter?«
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