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Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5

Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5

Titel: Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred
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entsetzlich leid. Ich verspreche dir, daß ich es nie wieder
    ausstellen werde. Nie. Wie fühlst du dich? Ein wenig besser?«
    Sie musterte Cecilies Gesicht. Davor hatte ihr den ganzen Tag gegraut. Hanne
    hatte Schmerzen in der Brust und Krämpfe im Unterleib, aus Angst davor,
    Cecilie anzusehen. Sie ließ vorsichtig ihren Zeigefinger um Cecilies Mund
    wandern, um die grauweißen Lippen mit der vertrockneten Zahnpasta im
    Mundwinkel; ihr Finger umfuhr die Nasen
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    flügel und die bläulichen, fast durchsichtigen Schwellungen unter den Augen.
    »Ich liebe dich, Cecilie. Ich weiß nicht, wie ich es schaffen soll, ohne dich zu leben.«
    »Das wirst du aber müssen.«
    Cecilies Stimme klang brüchig, und sie hustete vorsichtig. Dann legte sie die
    Hand auf Hannes Kopf und fuhr mit den Fingern durch die ungepflegten
    Haare.
    »Ich will nicht.«
    Hanne versuchte, ihr Weinen dorthin zu stecken, wo es hingehörte, tief unten
    ins Zwerchfell, wo es sie quälen konnte, ohne Cecilie zu stören.
    »Ich will nicht allein sein.«
    »Du wirst niemals allein sein. Wenn du nur bald erwachsen wirst und
    einsiehst, daß viele dich lieben, wirst du nie allein sein müssen.«
    Hanne wich zurück. Sie lag noch immer auf den Knien und starrte Cecilie an,
    während ihre Tränen sich nicht mehr zurückhalten ließen.
    »Wenn du stirbst, habe ich niemanden.«
    Cecilie lächelte wieder, diesmal echter. Ihre matten Augen leuchteten auf, als
    sie Hanne wieder an sich zog.
    »Kind! Du bist wirklich Weltmeisterin im Selbstmitleid. Hör zu, meine
    Liebste. Du bist noch keine vierzig Jahre. Du kannst noch doppelt so lange
    leben. Mindestens. Und es wimmelt nur so von Leuten, die ein Teil deines
    Lebens sein möchten.«
    »Die will ich aber nicht. Ich will dich. Ich habe immer dich gewollt.«
    Cecilie küßte sie lange auf die Stirn. Ihre Lippen fühlten sich schon tot an; kalt, trocken, mit Rissen, die über Hannes Haut schabten.
    Hanne schluchzte auf und lehnte dann ihren Kopf an Cecilies Oberkörper.
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    »Ist das zu schwer für dich?« fragte sie halberstickt in die Wolldecke hinein.
    »Tut es weh, wenn ich so sitze?«
    Cecilie roch nicht so wie sonst. Hanne nahm den fremden Duft von Seife und
    Krankenhaus in sich auf und verschloß die Augen vor der plötzlichen
    Erinnerung daran, wie Cecilie in ihrem Zimmer gesessen hatte, über die Ma-
    thehefte gebeugt, mit gerunzelter Stirn und mit einer ihrer langen Locken im
    Mund; sie hatte laut gejammert und immer wieder über die Unbegreiflichkeit
    der Integrale geklagt. Sie hatte so wundervoll gerochen. Nach junger Frau: ein
    Hauch von süßem Körperduft, der das billige Parfüm besiegte und Hanne dazu
    brachte, sich plötzlich vorzubeugen und sie auf den Mund zu küssen; dann war
    sie schnell zurückgewichen und hatte ihr aller-, allererstes »Tut mir leid«
    gesagt.
    Damals, vor fast zwanzig Jahren, hatte Cecilie gelacht. Sie lachte leise, die
    feuchte Locke klebte an ihrem Mundwinkel, bis sie ihre Haare hinters Ohr
    schob und Hanne zurückküßte; länger diesmal, viel länger und sehr viel küh-
    ner.
    Hanne würde Cecilie niemals erzählen, was in der letzten Nacht geschehen
    war. Auf dem Heimweg war sie entschlossen gewesen. Cecilie hatte einen
    Anspruch auf die Wahrheit. Hanne konnte mit einem solchen Geheimnis nicht
    leben.
    Dann hatte sie den Geruch von Seife und Krankenhaus wahrgenommen.
    Cecilie würde es nicht erfahren. Es gab nichts zu erfahren.
    »Kann ich dir etwas holen«, flüsterte sie und rieb unter der Wolldecke
    behutsam ihre Wange an Cecilies Brust. »Hast du auf irgend etwas Appetit,
    Herzchen?«
    »Joghurt. Ich glaube, ich möchte ein bißchen Joghurt. Wenn wir welchen
    haben.«
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    »Weißt du noch, mit welcher Rechenaufgabe du dich an dem Tag, an dem wir
    zusammengefunden haben, herumgeschlagen hast?«
    Hanne war aufgestanden.
    »Was?«
    »Damals. Als du bei mir warst, weil ich dir bei Mathe helfen sollte. Weißt du
    noch, welches Integral du nicht geschafft hast?«
    Cecilie zog vorsichtig an der Decke und sah aus, als habe sie am ganzen Körper
    Schmerzen. »Nein...«
    Hanne zog eine alte Zeitung und einen Kugelschreiber aus dem Bücherregal.
    »Dieses«, sagte sie und hielt die Zeitung vor Cecilies Gesicht.
    |(x2 + 3x + 4)dx
    Cecilie lachte herzlich. Sie lachte lange, fast so wie damals, vor neunzehn
    Jahren, und als sie endlich aufhörte, schüttelte sie den Kopf und sagte: »Du
    bist seltsam, Hanne. Du bist wirklich seltsam. Weißt du das noch so genau,
    oder

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