Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5
ungeschickten Versuch unternommen, die
Wohnung in der Vogts gate 14 zu untersuchen. Er hatte nicht gewußt, was er
eigentlich suchte. Da die Polizei ihm ja nicht hatte glauben wollen, konnte sie
leicht etwas übersehen haben. Für sie war Stäle Salvesen ein mutmaßlich
verstorbener Sozialfall. Nur für Sigurd Halvorsrud war er ein Mörder.
Da er keine Erfahrung als Einbrecher hatte, hatte er sich dumm genug
angestellt, um von einem alten Mann im Keller überrascht zu werden,
nachdem er bei der Untersuchung von Salvesens Wohnung nur stinkende
Lebensmittel gefunden hatte.
Deshalb hatte er an einem Ort Fingerabdrücke hinterlassen, an dem einige
Tage später eine Leiche gefunden wurde. Ein enthaupteter Journalist, dessen
Name ihm natürlich ein
226
Begriff war; der Mann schrieb seit vielen Jahren über sein eigenes Fachgebiet.
Vermutlich hatten sie auch schon einmal miteinander telefoniert, aber seines
Wissens waren sie sich nie begegnet.
Und dann hatte es sich herausgestellt, daß Salvesen doch tot war.
Was alle seine Aussagen torpediert hatte.
Salvesen hatte nicht tot zu sein. Salvesen sollte an einem brasilianischen
Strand sitzen und ein kaltes Bier genießen. Er sollte durch die Anden wandern,
allein mit der großartigen Natur, von der er immer geträumt hatte. Vielleicht
konnte er in einer Seitenstraße von Manila auch in der klebrigen Umarmung
einer Nutte liegen oder sich vorübergehend in Neuseeland als Schafscherer
verdingt haben.
Statt dessen war er als aufgelöste Leiche im Skagerrak aufgetaucht.
Und dann war Halvorsruds Gehirn heißgelaufen.
Das einzige, wozu er noch fähig war, war, an seiner Unschuld festzuhalten. Er
klammerte sich daran; verbiß sich in den Satz, den er immer wieder vor sich
hin murmelte: »Ich bin unschuldig.«
Als der Rollwagen mit dem Essen kam, wollte er nichts annehmen. Der Wärter
zuckte gleichgültig mit den Schultern und ging weiter. Als er einige Stunden
später abermals Essen verteilte, saß Sigurd Halvorsrud noch in derselben
Stellung wie zuvor da; ganz gerade, die Hände um die Knie geschlungen, wobei
er sich fast unmerklich hin und her wiegte und etwas murmelte, das der
uniformierte Mann nicht verstehen konnte.
Das war im Grunde ziemlich unheimlich, und der Wärter spielte mit dem
Gedanken, einen Arzt zu holen. Auf jeden Fall am nächsten Tag, wenn es dem
Mann dann nicht besser ging.
Vielleicht verlor der Oberstaatsanwalt gerade den Verstand.
226
32
»Ich hab schon mal mit dem Kameraden gesprochen. Laß mich das
übernehmen.«
Karl Sommaroy wußte nicht so recht, warum Billy T. ihn begleitete. Er sah
absolut gleichgültig aus, als er in seiner abgewetzten Lederjacke im scharfen
Frühlingswind fröstelte. Entweder war dieser Riese erschöpfter, als Karl
Sommaroy es je erlebt hatte, oder es gab etwas, das ihn wirklich quälte. Billy T.
gab fast nur einsilbige Antworten. Er hatte auf der ganzen Fahrt vom
Gronlandsleiret bis in die Vogts gate mit einem Schlüsselbund herumgespielt,
eintönig und aufreizend. Seine Augen waren tot, und sein Gesicht — das in der
Kantine in beängstigender Wut aufgeflammt war — war jetzt flach und
ausdruckslos. Außerdem stank Billy T. nach Streßschweiß, der ihn bei jeder
Bewegung umgab.
»Hausmeister Karisen ist schrecklich übellaunig. Aber ich glaube, er meint es
nicht böse.«
Sie schellten zum zweiten Mal.
»Ja«, schnarrte eine Stimme durch den Lautsprecher.
»Hier ist Karl Sommaroy vom Polizeidistrikt Oslo. Wir würden uns gern...«
Das Geräusch des Türsummers ließ ihn verstummen und Billy T.
verschwörerisch zuzwinkern. Er griff nach der Klinke und riß die Tür auf.
»Da siehst du's«, sagte er.
»Unnötig«, murmelte Billy T. »Wir haben doch die Schlüssel.«
Er hielt das Schlüsselbund vor Sommaroys Augen zwischen Daumen und
Zeigefinger hoch.
»Scheiße«, sagte der Oberwachtmeister sauer. »Das hättest du ja wohl sagen
können.«
227
»Ich dachte, du könntest dir denken, daß ich niemals ohne Schlüssel in eine
verschlossene Wohnung fahren würde.« »Was ist los?«
Hausmeister Karisen stand breitbeinig vor ihnen im Flur, sockenlos, in
gelbbraunen Pantoffeln. Er trug eine beige Hose und Hosenträger. Sein Hemd
wies auf der Brusttasche einen großen Fettfleck auf, und Billy T. entdeckte
Essensreste in seinen Bartstoppeln.
»Alles in Ordnung«, sagte Billy T. und zeigte seinen Dienstausweis. »Wir
wollen nur mal einen Blick in Salvesens Wohnung
Weitere Kostenlose Bücher