Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5
Gefühlen verwöhnt. Bei ihrer
Heirat mit Evald war sie alt genug gewesen, um nicht mit großen Erwartungen
in diese Ehe einzutreten. Im Laufe der Jahre hatte sie zu einer vagen
Zufriedenheit mit dem Dasein gefunden. Ihr Leben mit Evald verlief ruhig. Im
Laufe der Zeit lebten sie immer isolierter, aber Margaret sah es so, daß sie
einander liebten und sich wohlfühlten, obwohl sich nie ein Kind eingestellt
hatte.
Jetzt war Evald nicht mehr da.
Der Schock war nach den ersten vierundzwanzig Stunden einer lähmenden
Verzweiflung gewichen. Inzwischen war es vier Tage her, daß die Polizistin mit
dem flackernden Blick ihr mitgeteilt hatte, daß Evald tot sei, vermutlich er-
mordet. Es war Donnerstag, der 9. April, und Margaret war wütend.
Es war erst sechs Uhr morgens, und sie hatte nicht eine Minute geschlafen.
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Es interessierte sie nicht, wer Evald ermordet haben könnte.
Neben dem Schuhregal in der Diele lagen die Zeitungen der letzten vier Tage,
doch sie hatte keinen Blick hineingeworfen. Am Montag hatte Afienposten auf der ersten Seite ein Bild von Evald gebracht, das Bild eines laufenden, sab-bernden Mannes, den sie fast nicht erkannt hatte. Sie nahm die Zeitungen j
eden Tag von der Fußmatte, legte sie beiseite und ging zurück zum Bett.
Evald war tot, nichts konnte daran etwas ändern.
Die geheimnisvollen Umstände dieses Mordes — der, wie die leicht
übergewichtige Polizistin gesagt hatte, irgendwo in Torshov stattgefunden
haben sollte — erinnerten Margaret daran, daß Evalds Leben eine
Schattenseite gehabt hatte, zu der ihr niemals Zugang gewährt worden war.
Sie wußte es natürlich; es gab etwas, das er mit sich herumschleppte und von
dem er sich nicht befreien konnte. Während der ersten Jahre hatte sie sich den
Kopf darüber zerbrochen, und zweimal hatte sie versucht, mit ihm darüber zu
reden. Doch das hatte nur dazu geführt, daß er noch mehr gelaufen war und
weniger geredet hatte. Deshalb hatte sie die Sache auf sich beruhen lassen.
Und dabei würde es jetzt bleiben.
Margaret Kleiven war wütend auf ihren verstorbenen Mann. Er war nachts
losgelaufen, obwohl sie ihn immer wieder davor gewarnt hatte. Sie würde ihm
nie verzeihen.
Sie stand auf und ging unsicher durch das Zimmer.
Neben der Badezimmertür stand eine kleine Truhe. Die war mit
Rosenmustern bemalt und eigentlich eher eine große Kiste. Als das Pflegeheim
ihr Olgas Tod mitgeteilt hatte, hatte sie nichts dabei empfunden. Sie hatte der
alten Frau nie Gefühle entgegengebracht. Sie hatte sie seit über zwei Jahren
nicht mehr gesehen; als die Schwiegermutter in der totalen Senilität
versunken war, fand Margaret es sinn
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los, aus purer Heuchelei Besuche zu machen, da Evald doch ohnehin fast jeden
Tag dort hinging. Aber das Pflegeheim kannte keine anderen Angehörigen. Sie
riefen Margaret an, und Margaret kam. Olga Bromo hatte nur ein Büfett mit
Wäsche und einige kleine Silberlöffel besessen. Und eine kleine Truhe, auf
deren Deckel in blauer Schrift ihr Name geschrieben war. Der Pfleger hatte zu
Boden gestarrt, als er unter heftigem Räuspern mitteilen mußte, daß sie das
Zimmer sofort benötigten, die Alten und Kranken stünden Schlange, und er
hoffe, sie werde es nicht übelnehmen, wenn er sie frage, was mit den
Habseligkeiten der Toten geschehen solle.
Margaret Kleiven hatte die Truhe mitgenommen, mit dem Rest sollten sie
machen, was sie wollten.
Jetzt hockte sie im Morgenlicht, das sich durch einen Vorhangspalt ins
Zimmer stahl, in einem hellroten Morgenrock da, steckte den
schmiedeeisernen Schlüssel ins Schloß und drehte um.
Sie schauderte, als sie den Deckel hob. Wie ein Schock wurde ihr klar, was sie
im Grunde immer gewußt hatte: Sie hatte ihn nicht gekannt. Vorsichtig nahm
sie zwei alte Zeugnisse heraus. Eine Schachtel enthielt eine Kamee, die sie
noch nie gesehen hatte. Ein steifes, fleckiges rotes Postsparbuch war auf
Evalds Namen ausgestellt, obwohl die Einzahlungsdaten in eine Zeit fielen, als
Evald noch zu klein gewesen war, um Ahnung vom Sparen zu haben.
Als Margaret Kleiven den Inhalt der kleinen Holztruhe mit der blauen Schrift
auf dem Deckel durchgesehen hatte, erhob sie sich langsam und spürte, daß
ihre Beine eingeschlafen waren. Sie schüttelte sie aus und ging langsam ins
Erdgeschoß hinunter, wo sie in einem großen eisernen Ofen Feuer machte. Es
dauerte nicht lange, das Holz war trocken, und neben dem Schuhregal in der
Diele lagen Zeitungen
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