Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5
sammelten sich
langsam zu einem roten Mittelpunkt. Da. So war sie. Langsam und deutlich
sagte er: »Jetzt zieht das Netz sich zusammen. Bald haben wir sie.«
Seine Stimme klang genau wie in seiner Erinnerung. Klar und ein wenig
kindlich, sie paßte gut zu dem Spitznamen, den sie ihm im Gefängnis verpaßt
hatten.
»Ich bin das Engelchen«, sagte Eivind Torsvik zufrieden und schlief ein.
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»Meine Güte«, sagte Häkon Sand. »Du hier?«
Er ertappte sich dabei, daß er auf die Uhr schaute. Es ging auf Mitternacht zu.
Was der Polizeipräsident Hans Christian Mykland vor dem niedrigen
Klinkerblock in Lille Toyen, wo Hanne und Cecilie wohnten, zu suchen hatte,
konnte er sich nicht vorstellen. Noch dazu um diese Zeit.
»Du siehst gut aus«, sagte der Polizeipräsident munter und schlug
Staatsanwalt Sand kumpelhaft auf die Schulter. »Wirst du drüben am
Hambros Plass gut behandelt?«
Häkon murmelte eine Abwehr. Er konnte einfach nicht begreifen, warum der
Polizeipräsident hier war. Er steckte sich einen Finger ins Ohr und kratzte sich frenetisch.
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»Ich wollte unsere gemeinsame Freundin besuchen«, sagte Mykland und
nickte zum Fenster im zweiten Stock hoch. »Nur fragen, wie es ihr geht.«
Seine Jovialität war plötzlich verschwunden. Im bleichen Licht einer
Straßenlaterne sah Häkon Sand im Gesicht des Polizeipräsidenten eine
Besorgnis, die er ebenfalls nicht verstehen konnte. Der Mann wirkte älter, als
er, soweit Häkon wußte, wirklich war. Es konnte am graugelben Halbdunkel
liegen oder auch an dem abgenutzten hellbraunen Parka, der ihn für einen
Moment aussehen ließ wie einen alternden, heruntergekommenen
Junggesellen.
»Kennt ihr euch?« platzte es aus ihm heraus. »Ich meine. . . kennst du Hanne
auch privat?«
Der Polizeipräsident schüttelte fast unmerklich den Kopf.
»Das zu sagen wäre übertrieben. Ich mache mir nur Sorgen um sie. Sie hat es
im Moment nicht leicht. Aber. . . «
Er breitete die Arme aus und lächelte.
»Jetzt bist du hier, und Hanne ist in guten Händen. Ich verziehe mich. Gute
Nacht.«
Häkon murmelte eine Art Abschied, blieb stehen und schaute hinter dem
Polizeipräsidenten her, der die zwanzig oder dreißig Meter zu einem alten,
zitronengelben SAAB im Trab zurücklegte. Der Wagen protestierte laut, doch nachdem es im Auspuff zweimal scharf geknallt hatte, rollte er widerwillig mit
einem Schweif aus kohlschwarzem Rauch den Hang hoch. Häkon seufzte tief
und klingelte.
Keine Reaktion.
Er klingelte noch einmal, gerade so lange, daß es ihm schon als unhöflich
erschien. Dann ließ er den Klingelknopf los, trat drei Schritte zurück und
schaute zum Küchenfenster im zweiten Stock hoch. Hinter den Vorhängen
brannte die Deckenlampe. Ansonsten war es im Block überall dunkel,
abgesehen davon, daß offenbar jemand vergessen hatte,
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das Licht im Keller auszuknipsen. Ein rechteckiges Fenster warf blaukaltes
Licht über seine Füße.
Sie war zu Hause. Häkon war sich da sicher. Er hatte im Krankenhaus
angerufen. Eine freundliche Krankenschwester hatte ihm mitgeteilt, daß
Hanne Wilhelmsen gegen elf eine schlafende Cecilie Vibe verlassen hatte.
»Scheiße, so nicht, Hanne.«
Wütend drückte er wieder auf den Klingelknopf und kümmerte sich nicht
mehr um irgendwelche Normen für höfliches Benehmen. Er ließ den Finger,
wie ihm schien, für eine Ewigkeit dort und wollte gerade aufgeben, als
plötzlich der Summer ertönte. Er drückte gegen die Tür.
Er konnte sein eigenes Angstgefühl kaum begreifen. Sein Herz hämmerte wie
zuletzt vor seinem ersten Fall vor dem Obersten Gericht. Als er seine Hände
umdrehte, sah er den Schweiß in den Lebenslinien glänzen. Häkon Sand
wußte nicht, wovor er sich hier fürchtete.
Hanne Wilhelmsen war eine gute alte Freundin. Er begriff nicht, warum er
außer sich vor Angst war, als er sich der Tür mit dem Messingschild näherte,
auf dem HW & CV stand.
Es wurde auch nicht besser, als Hanne die Tür öffnete.
Ihr Gesicht war so verweint, daß es kaum noch zu erkennen war. Die Augen
waren zwei schmale Striche in der geschwollenen Haut, und die Unterlippe
zitterte dermaßen, daß Häkon sich auf etwas anderes konzentrieren mußte. Er
starrte einen Speicheltropfen an, der in einer Platzwunde mitten auf Hannes
Lippe zitterte; jetzt löste er sich und wanderte zum Kinn hinunter. Hannes
Wangen waren glühendrot, und ihre ganze Gestalt schien geschrumpft zu sein.
Ihre Hände hingen leblos nach
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