Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5
gleich zu den Fahrstühlen zu gehen. Der
große, offene Raum war menschenleer, abgesehen von einem dunkelhäutigen
älteren Mann in einem gelbblauen Trainingsanzug, der bei den Schranken vor
dem Südostteil des Hauses den Boden putzte. Er schickte ein Nicken und ein
Lächeln in Hannes Richtung, bekam aber nichts zurück.
Das Polizeigebäude hatte den Tag noch nicht richtig registriert. Irgendwo in
den oberen Etagen schlugen Türen, und aus der Kriminalwache beim
Haupteingang drangen halberstickte Rufe durch die kugelsicheren Glaswände.
Aber noch herrschte Stille im Haus; eine Ruhe, die Hanne normalerweise
liebte.
Sie fühlte sich nicht einmal müde: Erschöpft vielleicht, wie gerädert — aber ihr Kopf kam ihr klar und kalt und zielgerichtet vor.
Auf ihrem Tisch lagen vier Aktentürme. Nett und ordentlich waren sie
nebeneinander aufgestapelt, abwechselnd in grünen und rosa Ordnern. Sie
stellte die Mumin-Tasse mit schwarzem Kaffee an die Tischkante und steckte
sich eine Zigarette an. Beim ersten Zug überkam sie ein heftiges
Schwindelgefühl. Auf seltsame Weise fand sie das angenehm, wie einen
betäubenden Rausch.
Sie nahm sich zuerst den dicksten Ordner.
Karianne Holbeck hatte die wichtigsten Zeugenaussagen zusammengetragen.
Oben im Ordner lag eine Übersicht, aus der in groben Zügen hervorging, wer
vernommen worden war und was die Betreffenden gesagt hatten. Hanne
Wilhelmsen blätterte langsam den Stapel durch. Sie hielt bei Vernehmung Nr.
3 inne.
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Die Zeugin Sigrid Riis betrachtet sich als beste Freundin der Verstorbenen.
Sie haben sich mit vierzehn Jahren kennengelernt und füreinander als
Trauzeuginnen fungiert.
Bei diesem Satz mußte sie daran denken, daß sie in weniger als drei Monaten
Billy T. denselben Dienst erweisen sollte. Was das über die Tiefe ihrer
Freundschaft verriet, konnte sie absolut nicht sagen. Sie drückte ihre Zigarette aus. Und ihr fiel ein, daß Cecilie bald nach einer von Drogen betäubten Nacht
erwachen würde. Sie rieb sich die Mundwinkel mit Daumen und Zeigefinger
und leckte sich die Lippen, ehe sie weiterlas.
Die Zeugin beschreibt die verstorbene Doris Flo Halvorsrud als offenen und
munteren Menschen. Die Zeugin kann sich nicht vorstellen, wer der
Verstorbenen etwas hätte antun wollen. Die Zeugin meint, daß die
Verstorbene normal viele Freunde und einen relativ großen Bekanntenkreis
hatte, vor allem aufgrund der Arbeit ihres Mannes. Die Verstorbene konnte
bei Diskussionen temperamentvoll und bisweilen auch starrsinnig sein, hatte
aber immer einen witzigen Kommentar auf Lager, der die Situation rettete,
wenn jemand sich über eine überspitzte Formulierung ärgerte.
Die Zeugin sagt, die Verstorbene habe im Grunde in ihrer Ehe zufrieden
gewirkt. In der letzten Zeit — ungefähr dem vergangenen halben Jahr —
hatten die Verstorbene und die Zeugin nicht mehr soviel Kontakt. Das liegt
vor allem daran, daß die Zeugin fünf Monate in Kopenhagen an einer
Waldorfschule unterrichtet hat. Bei ihren Treffen hatte die Zeugin den
Eindruck, daß die Ehe nicht mehr so »richtig toll lief«. Unter anderem hat die Verstorbene einmal gefragt, wie die Zeugin nach ihrer Scheidung (die Zeugin
hat sich vor anderthalb Jahren scheiden lassen) finanziell über die Runden
gekommen sei. Das Thema wurde nicht weiter behandelt, und die Zeugin
weiß nicht mehr genau, was sonst noch gesagt wurde. Bei einer anderen
Gelegenheit wurde die Verstorbene plötzlich wütend und bezeichnete ihren
Mann als »scheinheilig«. Das passierte vor zwei Monaten, als die Zeugin und
die Verstorbene zusammen
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aßen und nachdem die Zeugin sich positiv über ein Zeitungsinterview
zwischen einem mutmaßlichen Mörder und Halvorsrud geäußert hatte. Die
Zeugin hat diesen Ausbruch damals nicht weiter ernstgenommen.
Die Zeugin bezeichnet die Verstorbene als gute Mutter, sie hatte immer Zeit
für ihre Kinder und hat ihretwegen ihre eigene Karriere vernachlässigt. Vor
allem war das Verhältnis zu den Söhnen Marius und Preben gut. Thea, die
Tochter, war immer »ein echtes Papakind«. Die Zeugin sagt, sie habe sich
darüber nie Gedanken gemacht, weil Mädchen doch häufig eine besonders
gute Beziehung zu ihrem Vater haben.
Hanne schaute von den Papieren auf, trank einen Schluck Kaffee und dachte
an ihren eigenen Vater. Sie konnte sich kaum sein Gesicht vor Augen rufen.
Hanne Wilhelmsen war ein Nachzügler, und für ihre beiden Geschwister hatte
sie nie viel
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