Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5
von
der ich nicht weiß, ob ihr schon daran gedacht habt.«
Billy T. schnitt eine schockierte Grimasse und riß die
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Augen auf, als fände er den puren Gedanken, daß die Polizei etwas an diesem
Fall nicht sorgfältig durchdacht und analysiert haben könnte, einfach
ungeheuerlich.
»Sagen wir, daß Stäle Salvesen am vergangenen Montag wirklich Selbstmord
begangen hat. Und daß Halvorsrud sich geirrt hat. Er hält Stäle Salvesen für
den Mörder. Aber es war ein anderer. Einer, der ihm ähnlich sieht. Entweder
durch einen seltsamen, schicksalhaften Zufall. Oder weil...«
»Oder weil der Mörder Ähnlichkeit mit Stäle Salvesen haben wollte«, beendete
Billy T. den Satz und leerte seine Flasche. »Natürlich haben wir uns das auch
schon überlegt. Das tun wir noch immer. But why?«
»Du bist zuviel mit Hanne zusammen«, sagte Karen trocken. »Und das Motiv
zu finden, ist eure Sache. Das bleibt mir erspart. Zum Glück.«
»Wie geht es übrigens den Kindern?« fragte Billy T. »Es war nicht gerade
lustig, den Jungen zum Verhör schleifen zu müssen, wo seine Mutter tot ist
und sein Vater für God knows wie lange eingebuchtet ist.«
»Die Jungen kommen zurecht«, sagte Karen und runzelte die Stirn, als mache
ihr etwas arg zu schaffen. »Mit Thea sieht es schon schlimmer aus. Mein
Bruder, und der ist ein alter Freund der Familie, sagt, sie sei einfach untröst-
lich. Das Komische ist, daß es ihr viel mehr auszumachen scheint, daß ihr
Vater im Gefängnis sitzt, als daß ihre Mutter tot ist. Sie ißt nichts mehr. Will nicht in die Schule gehen, sagt so gut wie nichts. Weint und tobt und will zu
ihrem Vater. Will den Vater zu Hause haben. Ihre Mutter erwähnt sie kaum.«
»Unmöglich vorauszusehen, wie Leute in einer solchen Situation reagieren«,
Billy T. gähnte. »Vor allem Kinder. Ich muß los. Ich werde dafür sorgen, daß
der Ordner so nach und nach komplett wird.«
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Als er die Hand auf die Türklinke legte, sagte Karen halblaut und offenbar
mehr zu sich selbst: »Vielleicht könnte Häkon...«
Billy T. drehte sich um und starrte sie lange an.
»Ja«, sagte er endlich. »Vielleicht ist Häkon derjenige, der mit Hanne reden
kann. Ich bin das jedenfalls nicht.«
»Was finden wir eigentlich an ihr«, sagte Karen Borg, noch immer ins Leere
gerichtet. »Warum haben wir Hanne so gern? Sie ist eigen und_ sauer. Oft
jedenfalls. Verschlossen und wortkarg. Aber wir sind allesamt immer für sie
zur Stelle. Warum?«
Billy T. strich mit der Hand über die Türklinke.
»Weil sie nicht immer so ist. Vielleicht sind wir... wenn sie sich plötzlich öffnet und. . . ich weiß nicht. Ich weiß nur, daß sie meine beste Freundin ist.«
»Du bewunderst sie. Grenzenlos. Das tun wir alle. Ihre Tüchtigkeit. Ihren
scharfen Verstand. Aber. . . warum sind wir so verdammt verletzlich, wenn es
um sie geht? Warum. . . «
»Ich habe sie gern. Du auch. Es gibt nicht für alles auf der Welt eine
Erklärung.«
Seine Stimme klang plötzlich abweisend und schroff, wie ein Echo von Hanne
selbst. Dann tippte er sich mit den Fingern an die Schläfe und war
verschwunden.
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Es war Mittwoch, der 10. März 1999, mittags um fünf vor halb eins. Karianne Holbeck hatte bereits sieben Stunden Arbeit hinter sich und versuchte, sich
den Nacken zu massieren. Als sie den Arm krümmte, merkte sie, daß sie offen-
bar wieder zugenommen hatte. Das spürte sie auch an ihren Jeans, die so eng
saßen, daß sie den obersten Knopf nicht
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mehr schließen konnte. Sie ärgerte sich grenzenlos darüber. Am 4. Januar
hatte sie optimistisch und fest entschlossen eine Halbjahreskarte für ein
Fitness-Studio gekauft. Einmal war sie bisher dort gewesen.
Wieder klingelte das Telefon.
»Holbeck«, kläffte sie in die Sprechmuschel.
»Guten Tag. Ich heiße. . . «
Die Polizistin verstand den Namen nicht. Gar nicht. Sie begriff nur, daß sie es
mit einem Ausländer zu tun hatte.
»Worum geht es«, fragte sie gleichgültig, fischte die Broschüre des Fitness-
Studios hervor und versuchte festzustellen, wann dort abends geschlossen
wurde.
»Ich rufe wegen diesem Anwalt an«, sagte die Stimme. »Von dem in der
Zeitung steht. Er heißt Halvorsröd.«
»Halvorsrud«, murmelte Holbeck und schaute auf die Uhr. »Der ist kein
Anwalt. Er ist Oberstaatsanwalt.«
»Ich bin Türke, verstehen Sie.«
Der Mann sprach unbeirrt weiter.
»Ich habe auf Grünerlokka einen Gemüseladen.«
Das Studio hatte bis acht geöffnet. Da
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