Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5
unten, ihre Schultern verschwanden in ihrem
viel zu weiten Sweatshirt.
Er wußte nicht, was er sagen sollte. Er setzte sich auf die Treppe. Die
Betonstufen fühlten sich unter seinem Hosen
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boden eiskalt an. Er rieb sich die Hände und konnte Hanne nicht mehr
ansehen.
»Komm rein«, sagte sie endlich mit einer Stimme, die er noch nie gehört hatte.
Mühsam und außer Atem erhob er sich und blieb in der Diele stehen, ohne
seine Jacke auszuziehen, während Hanne im Wohnzimmer verschwand.
Die Wohnung roch nach Cecilie. Ein Duft von Boss Woman hing in der Luft.
Häkon schnupperte. Der Geruch war aufdringlich. Und ungewöhnlich stark,
doch dann entdeckte er auf einem Tisch im Flur einen fast leeren Flakon.
Zögernd ging er aufs Wohnzimmer zu. Dort war der Geruch noch stärker.
»Du hast die Flasche geleert«, sagte er und biß sich in die Lippe.
Hanne schwieg. Sie saß aufrecht in einem Sessel, ohne sich zurückzulehnen.
Ihre Hände lagen in ihrem Schoß, offen, als warte sie auf ein Geschenk. Sie
starrte dermaßen intensiv geradeaus, daß Häkon sich nach dem Gegenstand
ihres Interesses umdrehte. Es war eine leere, weiße Wand.
Endlich streifte er seine schwere Jacke ab. Sie blieb zu seinen Füßen liegen.
Dann ging er langsam zum Sofa und setzte sich. Zerstreut nahm er eine
Apfelsine aus einer Obstschüssel und ließ sie von einer Hand in die andere
wandern.
»Wie ist es gelaufen?« brachte er dann endlich heraus.
»Game over«, sagte Hanne tonlos. »Metastasen bis zur Leber. Nichts mehr zu
machen.«
Die Apfelsine platzte. Lauwarmer Saft floß über Häkons Hände und tropfte auf
seinen Oberschenkel. Dann legte er die mißhandelte Frucht wieder weg. Er
hielt seine klebrigen Hände hilflos über seine Knie und brach in Tränen aus.
Endlich wandte Hanne ihren Blick.
Sie sah ihn an. Als er sich aufsetzte, um zu Atem zu kommen, schaute er ihr ins
Gesicht.
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»Du mußt jetzt gehen«, sagte sie. »Ich will, daß du gehst.«
Demonstrativ versuchte er zu lachen. Er schluchzte, und Rotz und Tränen
strömten.
»Ich weine«, nuschelte er und fuhr sich mit dem Ärmel über das Gesicht. »Ich
weine um Cecilie. Aber vor allem weine ich um dich. Es muß dir schlimmer
gehen, als ich es mir vorstellen kann. Du bist eine Idiotin, Hanne, und ich
begreife nicht. . . «
Der Rest erstickte in einem Hustenanfall.
»Du mußt nach Hause zu deiner Familie«, sagte Hanne und strich sich mit
einer langsamen Bewegung die Haare aus der Stirn. »Es ist spät.«
Einen Moment lang starrte er sie ungläubig an. Dann sprang er wütend auf. Er
schlug mit dem Knie gegen die Tischkante und fluchte wie besessen.
»Und wie«, schrie er mit Fistelstimme. »Und wie ich jetzt nach Hause gehe.
Sitz du nur da. Weiger dich nur, mit mir zu sprechen. Mach, was zum Teufel
du willst. Aber ich gehe nicht. Ich bleibe hier.«
Weil ihm nichts Besseres einfiel, schob er sich wütend die Pulloverärmel hoch
und herunter. Er schluchzte wie ein übergroßes Kind und rieb sich
brennenden Saft in die Augen, als er versuchte, seine Tränen wegzuwischen.
»Verdammt noch mal, Hanne. Was ist denn bloß los mit dir?«
Später konnte er nicht mehr erklären, was dann passiert war. Das Ganze war
so unlogisch, so unerwartet und so wenig Hanne Wilhelmsen, daß er es fast für
einen Traum gehalten hätte. Nur wenn er dann später sein schmerzendes
Brustbein berührte, begriff er, daß sie ihn wirklich angegriffen hatte.
Sie sprang auf, ging auf ihn zu und verpaßte ihm eine schallende Ohrfeige.
Danach schlug sie ihm mit der Faust in den Bauch. Dann sank sie auf die Knie,
hämmerte auf seine
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Beine ein und blieb dann liegen, den Kopf zwischen den Knien, die Hände im
Nacken verschränkt.
»Hanne«, flüsterte er und ging in die Hocke. »Hanne. Laß mich dir doch ein
bißchen helfen.«
Willenlos ließ sie sich von ihm auf die Beine ziehen. Seine Arme durften sie
umfangen. Ihr Kopf sank an seine Schulter. Er nahm intensiv Cecilies Duft
wahr und wußte plötzlich, daß Hanne den Flakon über sich ausgeleert hatte.
Häkon wußte nicht, wie lange sie dort standen. Alles, was er tun konnte, war,
sie im Arm zu halten. Langsam wurde sie schwerer. Endlich erkannte er, daß
sie ganz einfach eingeschlafen war. Vorsichtig ließ er einen Arm um ihre Taille
gleiten. Wie eine Schlafwandlerin kam sie mit ihm ins Schlafzimmer. Dort
legte er sie vollständig angezogen auf den Bauch. Er selbst blieb stehen und
horchte auf ihren
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