Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5
machen?« fragte sie verzweifelt. »Was in aller Welt sollen wir
machen?«
»Wir müssen für Thea einen Arzt besorgen«, sagte Karen Borg energisch.
»Und das noch heute.«
Als sie sich umdrehte und gehen wollte, sah sie Preben Halvorsrud am
Türrahmen lehnen. Er starrte an ihr vorbei und aus dem Fenster. Das kleine
Kaninchen war lautlos auf den Boden gefallen. Es war unmöglich, aus dem
Blick des jungen Mannes etwas zu lesen. Zugleich jedoch lag in seinen Augen
etwas, das Karen Borg schaudern und sich weit fort wünschen ließ.
»Ich sag das schon die ganze Woche«, sagte er tonlos. »Thea braucht Hilfe.
Und unseren Vater. Haben Sie vor, ihn bald aus dem Knast zu holen? Damit
Thea nicht mehr in diesem rosa Loch wohnen muß, meine ich.«
Jetzt sah er sie an. Sie hatte das Gefühl, in Greisenaugen zu blicken, die in
diesem unfertigen Knabengesicht einfach fehl am Platze waren.
»Werden sehen«, sagte Karen Borg kurz und gab sich alle Mühe, Prebens Blick
auszuweichen.
40
Ihr Kopf fühlte sich leer und leicht an.
Hanne Wilhelmsen versuchte, sich immer nur auf einen Gedanken zu
konzentrieren. Vor ihren Augen flimmerte alles und mischte sich zu einer
halluzinatorischen Farbkarte. Sie nahm sich abgestandenen Kaffee aus einer
Thermosflasche und trank ihn fast mit einem Schluck.
112
Es war Samstagnachmittag. Da sie bis zum späten Vormittag im Krankenhaus
geblieben war, glaubte sie nicht, lange vor Mitternacht das Polizeigebäude
verlassen zu können. In dieser Nacht wollte sie zu Hause schlafen.
Sie nahm eine kleine Glasflasche mit Plastikverschluß aus einer
Schreibtischschublade. Chinesisches Gelee royale. Die Pillen sollten von
wundersam belebender Wirkung sein. Sie las das Etikett: »Gegen
Rheumatismus, Gewichtsverlust, Haarausfall, Lungenentzündung,
geschwächtes Immunsystem und Depressionen.« Depressionen stimmte auf
jeden Fall. Hanne schüttelte sich braune Pillen auf die Hand und betrachtete
sie einige Sekunden lang. Dann legte sie sich drei auf die Zunge und spülte sie
mit dem letzten Rest Kaffee hinunter. Es brannte in ihrer Speiseröhre.
Mißmutig musterte sie die drei Stapel, die vor ihr lagen.
Einer gehörte zum Fall Halvorsrud. Und er war nicht der schlimmste. Sie hatte
sich die ganze Woche hindurch auf dem Laufenden gehalten und empfand
eine gewisse Zufriedenheit bei dem Gedanken, daß sie vermutlich mehr über
den Fall wußte als irgendjemand sonst. Die beiden anderen Stapel dagegen
machten ihr wirklich zu schaffen. Die anderen Fälle. Die Überfälle. Die
Kneipenschlägereien. Der Rest der Welt hatte in der vergangenen Woche nicht
stillgestanden.
»Eckstein, Eckstein«, sie kicherte albern und ließ ihren Zeigefinger von einem
Stapel zum anderen wandern.
Trotzdem endete sie bei der Halvorsrud-Akte. Billy T s nachlässige
Handschrift auf einem rosa Umschlag war unlesbar. Sie schlug den Ordner
auf. Zum Glück war der Inhalt mit der Maschine geschrieben.
Ich habe deinen Wunsch erfüllt und nach besonders grotesken Morden
gesucht. Zum Glück gibt es nicht viele. An einige wirst du dich erinnern;
unter anderem hat das Messer von Vater/Tochter
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Häverstad in Cato Iversens Eiern sicher die Bezeichnung »grotesk«
verdient...
Der schlimmste Fall von allen ist vermutlich der »Homomord«, der vor
einigen Jahren im Frognerpark passiert ist. Ich nehme an, ich kann auf eine
genauere Beschreibung verzichten, der Bericht liegt bei. Das Problem in
unserem Zusammenhang ist, daß der Mörder im Gefängnis Selbstmord
begangen hat. Wirklich, meine ich. Er ist mausetot. Falls er nicht von den
Toten auferstanden ist, kann er also Frau Halvorsrud nicht enthauptet
haben.
Vier andere Fälle liegen in Kurzfassung bei. Der interessanteste stammt von
1990. Ein Achtzehnjähriger (es ist an seinem Geburtstag passiert) hat seinen Pflegevater entführt. Er hat ihn übel mißhandelt (u. a. hat er ihm die
Brustwarzen zerfetzt) und ihm den Penis abgeschnitten. Der Mann ist nicht
sofort an seinen Verletzungen gestorben und war wohl noch am Leben, als
ihm die Hoden abgehackt wurden. Schließlich ist er verblutet. Der Mörder,
Eivind Torsvik, war von seinem Pflegevater jahrelang vergewaltigt worden.
Als er endlich Hilfe suchte (es war ziemlich dramatisch, er schnitt sich die Ohren ab und nahm sie mit in die Schule, um sie dem Lehrer zu zeigen!), hat
es endlos lange gedauert, bis die Sache vor Gericht kam (typisch). Der Mann
wurde zu anderthalb Jahren Haft verurteilt
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