Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5
Seiten ab.
»Wenn Sie Papas Anwältin sind, dann holen Sie ihn aus dem Gefängnis, statt
mich zu belästigen.«
Dann legte sie sich auf den Rücken und begrub sich abermals unter Decken
und Kissen. Karen Borg ertappte sich bei einem Lächeln. Es gab klare
Parallelen zwischen dieser Halbwüchsigen und Karens knapp zwei Jahre alter
Tochter. Aber der Unterschied lag doch auf der Hand. Die kleine Liv lächelte
in der Regel nach fünf Minuten wieder. Die große Thea war seit einer Woche
im Hungerstreik. Was besorgniserregend und fast schon gefährlich war.
»Wenn du dir die Zeit nimmst, mit mir zu reden, dann kann ich vielleicht
bessere Arbeit leisten«, sagte Karen und hoffte im selben Moment, damit nicht
zuviel versprochen zu haben.
Ein leichter Kakaogeruch erfüllte das Zimmer. Theas Tante Vera hatte erzählt,
daß sie immer wieder versuchte, den Appetit ihrer Nichte anzuregen, indem
sie duftende
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Köstlichkeiten vor die Tür stellte. Karen Borg glaubte jedoch nicht, daß sich
die Tochter einer vor kurzem erst enthaupteten Frau mit Schokolade und
Sahne in Versuchung führen lassen würde.
»Soll ich gehen?« fragte sie resigniert und wollte sich schon erheben.
Etwas ließ sie zögern. Ein leichter Luftzug vom halboffenen Fenster her
bewegte die Vorhänge, und das kleinste Kaninchen wackelte dabei leicht mit
den Ohren. Die Bewegungen unter den Decken waren wieder ruhiger
geworden. Und das Mädchen setzte sich widerwillig auf und lehnte den
Rücken ans Bettende. Ihr Gesicht war das eines Kindes, aber ihre Augen waren
so tief in ihren Höhlen versunken, daß sie durchaus für zehn Jahre älter hätte
durchgehen können. Ihr schmaler Mund zitterte, und immer wieder fingerte
sie am Zipfel ihres Bettbezugs herum.
»Sie glauben Papa«, sagte sie leise. »Wo Sie doch seine Anwältin sind, müssen
Sie ihn für unschuldig halten.«
Karen Borg fand nicht, daß hier ein Vortrag über anwaltliche Ethik angesagt
sei.
»Ja«, sagte sie kurz. »Ich glaube ihm.«
Das Mädchen lächelte schwach.
»Tante Vera tut das nicht.«
Karen glaubte, vor der Tür ein Geräusch zu hören. Nach kurzem Nachdenken
beschloß sie, den Zuhörer zu ignorieren.
»Das tut sie sicher. Aber sie kennt deinen Vater ja nicht so gut wie du, und
ziemlich vieles weist darauf hin, daß er wirklich etwas angestellt hat. Das
darfst du nicht vergessen.«
Thea murmelte etwas Unverständliches.
»Dein Vater muß damit rechnen, daß er noch eine ganze Weile in
Untersuchungshaft bleiben muß. Und du kannst nicht ohne Essen
auskommen, bis er freigelassen wird. Dann verhungerst du am Ende noch.«
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»Dann verhungere ich eben«, sagte Thea mit harter Stimme. »Ich rühre kein
Essen an, bis Papa kommt. Und wir wieder nach Hause ziehen können.«
»Jetzt bist du ein bißchen kindisch.«
»Ich bin ja auch ein Kind. Laut Kinderkonvention der UNO bin ich ein Kind,
bis ich achtzehn werde. Und das dauert noch fast zwei Jahre.«
Karen Borg lachte kurz.
»Das Problem ist, daß du gar nicht erwachsen wirst, wenn du nichts ißt.«
Das Mädchen gab keine Antwort. Sie machte sich immer wieder am Zipfel des
Bettzeugs zu schaffen. Ein Faden riß ab, und sie steckte ihn in den Mund.
»Wie gesagt, dein Vater macht sich sehr große Sorgen. Nach allem, was
passiert ist, mit deiner Mutter und. . . «
»Reden Sie nicht über Mama!«
Theas Gesicht verzog sich zu einer nur schwer deutbaren Grimasse.
Karen Borg wußte nicht, was sie selbst schlimmer gefunden hätte. Daß die
Mutter ermordet worden war oder daß der Vater unter Mordverdacht stand.
Vermutlich würde sie beides nicht fassen können. Schon gar nicht in einem
Alter von sechzehn Jahren. Sie strich ihren Rock glatt, fuhr sich über die
Haare und wußte nicht so recht, warum sie hier saß. Dieses Mädchen brauchte
zwar Hilfe, aber durchaus nicht die einer Juristin.
»Dein Vater kann auf jeden Fall am Montag zur Beerdigung kommen«, sagte
sie schließlich, das Mädchen hatte sich ein wenig beruhigt. »Dann siehst du
ihn. Und es wäre sicher nicht dumm, am Wochenende etwas zu essen, damit
du überhaupt hingehen kannst.«
»Mama«, jammerte Thea. »Papa, Papa!«
Dann legte sie sich auf den Rücken und zog sich wieder die Decke über den
Kopf. Ihr Weinen wurde von Federn und
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Baumwolle gedämpft, war aber doch immer noch laut genug, um Tante Vera
die Tür öffnen zu lassen. Ratlos blieb sie mitten im Zimmer stehen und rieb
die Hände aneinander.
»Was sollen wir
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