Holt, Anne - Hanne Wilhelmsen 5
Deren Ohrläppchen kitzelte
ihre Lippen.
»Du bist nicht das Problem«, sagte sie. »Du bist nie das Problem gewesen.«
Sie verbarg ihr Gesicht in Cecilies Haaren und sagte: »Ich
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war nie gut genug. Ich habe dich nicht verdient. Du hättest dir eine Stärkere
suchen sollen. Eine, die es gewagt hätte, sich voll und ganz für dich zu
entscheiden.«
»Aber das hast du doch getan«, sagte Cecilie und versuchte Hanne
wegzuschieben, um ihr in die Augen blicken zu können.
Hanne wollte nicht.
»Nein«, murmelte sie an Cecilies Hals. »Ich habe mein Leben lang zwei Pferde
geritten. Oder drei. Oder sogar vier. Und keins davon paßte zu den anderen.
Ich habe mir solche Mühe gegeben, das zu verteidigen. Es für richtig halten zu
können. Aber in der letzten Zeit. . . «
»Du erwürgst mich«, stöhnte Cecilie. »Ich kriege keine Luft.«
Langsam hob Hanne den Kopf. Dann stand sie auf und ging ans Fenster. Der
Nebel hatte sich jetzt verdichtet, sie konnte kaum noch den Parkplatz sehen,
auf dem ein einsamer BMW mit einem roten Kotflügel stand.
»Bei allem, was ich getan habe, bei allem, was ich gewesen bin, habe ich mich
auf die Tatsache gestützt, daß ich tüchtig bin. Tüchtig.«
Sie griff sich mit der Hand an die Stirn und rieb sich energisch mit Daumen
und Zeigefinger die Augenhöhlen.
»Aber in letzter Zeit. . . im letzten halben Jahr vielleicht, sind mir Zweifel
gekommen.«
»An uns«, sagte Cecilie, eher um eine Tatsache festzustellen als um zu fragen.
»Nein!«
Hanne fuhr herum und breitete die Arme aus.
»Nicht an uns. Nie an uns! An mir!«
Sie schlug sich auf die Brust und versuchte, ihren Ausbruch in den Griff zu
bekommen.
»Ich zweifele an mir«, flüsterte sie. »Ich. . . ich habe solche Angst davor, etwas Falsches zu tun. Ich blicke zurück und
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begrabe mich in den vielen Malen, bei denen ich versagt habe. In jeder
Hinsicht. Freunden gegenüber. Dir gegenüber. Ich habe alle im Stich gelassen.
Eigentlich habe ich immer alle im Stich gelassen.«
Sie atmete heftig aus und ein und drehte sich wieder zum Fenster um. In der
Fensterscheibe sah sie ihr Spiegelbild. Als sie weitersprach, starrte sie sich
selbst in die Augen.
»Ich habe sogar Angst vor meinen alten Fällen. Vielleicht habe ich zu großem
Unrecht beigetragen. Nachts liege ich wach und. . . nachts habe ich Angst. . .
ich habe sogar Angst vor Entschädigungsklagen. So weit ist es gekommen. Ich
habe das Gefühl, alle, die ich ins Gefängnis gebracht habe, rotten sich
zusammen und. . . Ich versuche, Leuten aus dem Weg zu gehen, die ich verletzt
habe, und sogar. . . Leuten, denen ich niemals etwas getan haben kann. So, als
ob ich. . . Und ich kann nur in die Zukunft blicken, wenn ich mich auf neue
Fälle konzentriere. Auf immer neue Fälle.«
»Damit du dich nicht mit Leuten befassen mußt.«
»Ja. Vielleicht. Oder ..«
»Und mit mir.«
Hanne ließ sich in den Sessel fallen. Sie umfaßte Cecilies rechte Hand.
»Aber verstehst du nicht, daß ich es nicht will?« sagte sie. »Es hat doch nie
andere gegeben als dich. Niemals. Es ist nur so, daß ich, wenn ich dich sehe,
auch meine eigene. . . meine eigene Feigheit sehe.«
Cecilie versuchte, die Lampe zu erreichen. Es war zu dunkel. Hanne schien in
ihrem Sessel zu altern, die Schatten machten ihre Gesichtszüge schärfer und
ihre Augenhöhlen tiefer.
»Nicht anfassen«, sagte Hanne leise. »Bitte.«
»Es war auch meine Entscheidung«, sagte Cecilie.
»Was denn?«
»Du. Ich hätte härter sein können. Ich hätte mich gegen
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die zwei Telefone wehren können. Gegen die Initialen an der Tür. Dagegen,
daß ich nie zu deinen Betriebsfesten mitkommen durfte. Ich hätte etwas sagen
können.«
»Das hast du doch auch getan.« Hanne lächelte leicht und rieb sich den
Nacken.
»Möchtest du ein Kissen?« fragte Cecilie.
»Du hast dich die ganze Zeit gewehrt.«
»Nicht richtig. Ich hab wohl auch zuviel Angst gehabt.«
Hanne richtete sich auf und holte tief Atem. Eine halbe Flasche lauwarmes
Mineralwasser auf dem Nachttisch wäre fast umgefallen, als sie versuchte,
ihren Sessel zu verrücken.
»Ich habe immer Angst gehabt, Hanne. Davor, dich zu verlieren. Davor, so
große Ansprüche zu stellen, daß du dich gegen mich entscheidest.«
Die Tür wurde geöffnet, und ein Bett rollte mit dem Fußende voraus ins
Zimmer.
»Jetzt wird geschlafen, ob Sie das nun wollen oder nicht«, sagte die
Krankenschwester, als auch sie zu sehen war. »Sie
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