Holunderblut
der Geld hat, vielleicht mehr, als ein Allgemeinarzt auf dem Land verdienen kann. Man erkennt es, wenn man in derselben Liga spielt.
Der Doktor hat sehr akzentuiert und sauber gesprochen, so dass sogar der Lucarelli das Gefühl gehabt hat, ein wenig Deutsch zu verstehen. Außerdem hat er eine melodische tiefe Stimme mit einem sehr beruhigenden Tonfall gehabt, perfekt für einen Arzt. Der Matteo hat sich für einen Moment all die Frauen vorgestellt, die Patientinnen, die irgendwelche Krankheiten simulieren, nur um zum Dr. Lechner in die Sprechstunde kommen zu dürfen. So einer wie der Lechner kann durchaus zu einer Belastung für die allgemeinen Krankenkassen werden.
»Frau Berger, erinnern Sie sich?«, hat der Dr. Lechner gefragt, während er ihren Blutdruck gemessen hat. »Ichhabe Sie letzte Woche schon einmal besucht. Nach Ihrem Kollaps. Sie waren kurz wach, erinnern Sie sich?«
»Ich glaube, ja«, hat sie leise geantwortet. Sein Gesicht ist ihr bekannt vorgekommen, wenn nicht sogar vertraut.
»Sie hatten – haben – eine
Commotio cerebri
, eine Gehirnerschütterung. Normalerweise vergehen Folgen wie Kopfschmerzen nach wenigen Tagen. Wenn man sich jedoch, wie Sie, vom Krankenbett losreißt, ohne auf eine Genesung zu warten, können sich diese negativen Begleiterscheinungen länger hinziehen. Wann sind Sie raus?«
Der Matteo war froh, wenigstens die medizinischen Fachbegriffe zu verstehen. Soll noch einmal einer sagen, Latein oder Altgriechisch wären sinnlos.
»Donnerstag.«
Der Dr. Lechner hat genickt. »Das war dann aber erstaunlich früh. Oder haben Sie sich unvernünftigerweise am Ende selbst entlassen?« Er hat sie erwartungsvoll angeschaut, um ihre Bestätigung zu hören.
»Kann sein, ich weiß nicht mehr, es war wegen dem Fall, den ich bearbeite.«
Er hat ihr mit einer Lampe in die Pupillen geleuchtet, die wichtigsten Reflexe getestet und nach Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Bewusstseinsstörungen und neurologischen Ausfällen gefragt.
Der Katharina hat der schmerzende Kopf geschwirrt, und sie hat recht einsilbig geantwortet mit
ja
,
nein
,
kann schon sein
und
weiß nicht
, aber eigentlich hat sie die ganze Zeit nur gedacht:
Lasst mich einfach in Ruhe
.
Am Ende der Untersuchung hat der Dr. Lechner mit dem Matteo gesprochen, mit Gesten und einem ordentlichen Englischvokabular. Sie brauche Ruhe, er schreibe sie die ganze Woche krank, keinesfalls solle sie sich mit ihrerArbeit befassen. Er, der Lucarelli, solle sie gut beobachten und, wenn sich irgendwas verschlimmere, trotz der verschriebenen Schmerzmittel die Kopfschmerzen anhielten, Bewusstseinsstörungen oder neurologische Ausfälle einträten, sofort mit ihr in die Notaufnahme der Neurochirurgie in die Mühldorfer Klinik fahren, die 2092 nach Mühldorf, nach der Innbrücke rechts, dann links, ganz einfach. Ob er alles verstanden habe?
Seh ich aus wie ein Trottel, Signor Medico?
Ja, alles verstanden.
Der Dr. Lechner hat mit einem mobilen Scanner der Katharina ihre Karte eingelesen, ein Rezept und ein ausgefülltes Überweisungsformular dagelassen und empfohlen, dass sie auf alle Fälle in den kommenden Tagen zur Kontrolle in die Neurochirurgie gehen soll, um, nur zur Sicherheit, ein MRT machen zu lassen.
Und dann ist er dem Matteo nach unten in die Küche gefolgt. Hat ihm gesagt, dass er froh sei, dass der Matteo sich jetzt um die Katharina kümmere, und wie gut es in solchen Situationen sei, wenn man jemanden aus der Familie dahabe.
Der Matteo hat nach der Suppe geschaut, während der Dr. Lechner ihm noch ein bisschen was erzählt hat, zum Thema Familie, smalltalkmäßig, als hätte er alle Zeit der Welt. Der Matteo hat sich aus Freundlichkeit nach der Familie vom Herrn Doktor erkundigt, weil er irgendwie gespürt hat, dass der keine eigene Familie hat. Weil wenn einer einem Fremden Privates erzählt, dann oft, weil er daheim niemanden hat, dem er was erzählen kann.
Eine Schwester hat der Doktor noch gehabt, die habe den Tod des Vaters nicht so gut verkraftet. Die Mutter sei auch vor einigen Jahren verstorben. Nach dem Tod der Elternhabe sich seine Beziehung zur Schwester noch verbessert, sie seien heute sehr eng miteinander. Innige Liebe könne es ja auch zu Familienmitgliedern geben, gerade wenn der Rest der Familie schon verstorben sei und die Eltern nicht immer einfach gewesen seien. So der Dr. Lechner.
Der Matteo hat kurz an seine Schwester Francesca und seine verstorbenen Eltern gedacht und den
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