Holunderküsschen (German Edition)
Johann oder der an den bevorstehenden Flug.
„Entschuldigung …“ Ein Mann in einem augenscheinlich teuren Anzug drängelt sich durch die Drehtür an mir vorbei. „Andere Leute haben es eilig.“
Ich lasse meinen Blick über die Menschenmenge schweifen. Die Schlangen vor den Ec o nomy-Schaltern sind meterlang. Selbst an den Automaten drängeln sich die Reisenden. Wo steckt nur Johann?
Normalerweise ist Johann überpünktlich. Er hasst es, wenn Menschen zu spät sind, was zwischen uns beiden häufig ein Streitpunkt war. Denn ich halte es immer mit der akademischen Viertelstunde . A ußerdem finde ich, als Frau wirkt man interessanter, wenn man den Mann etwas warten lässt. Das erhöht die Spannung. Im Moment finde ich die Spannung allerdings unerträ g lich. Ich will jetzt sofort mit Johann in den Flieger steigen, sonst befürchte ich, ich könnte es mir doch noch in letzter Sekunde anders überlegen.
Wie geht es Benni wohl in diesem Moment? Ob er unglücklich ist?
Hoffentlich ...
Ach, verdammt! Ich wollte doch nicht mehr an ihn denken, aber bei dieser Warterei übe r schlagen sich meine Gedanken einfach und ich kann nichts dagegen tun.
Ob er versuchen wird mich zu finden?
Aber wie?
Und vor allem: Warum? Wahrscheinlich ist doch eher, dass er froh ist, mich los zu sein. Schließlich habe ich ihm ja den Artikel da gelassen . A lso gibt es für ihn keinen Grund mehr, mir auch nur eine Träne nachzuweinen.
Oder vielleicht ist er sogar erleichtert mich auf so einfache Weise losgeworden zu sein . Jetzt, wo unsere Affäre dank meines Auftritts vor Emma bald in der ganzen Abteilung bekannt sein dürfte. Mist, wenn ich so weiter mache, bin ich bis Johann endlich kommt ein emotionales Wrack.
Das ist die Krux mit uns Frauen. Wenn wir mit jemanden ins Bett gehen, öffnen wir nicht nur unsere Schenkel, sondern meistens auch unsere Seele. »Emotionale Bindung« nennen die Forscher das. Ich nenne es naiv und blöd. Jedes Mal wenn ich mir vorgenommen habe mit einem Mann nur Spaß zu haben, endete es damit, dass er seinen Spaß hatte und ich am Ende heulend in der Ecke saß. Ich war nie einer dieser Vamps, die mit einem Mann, den sie gerade erst kenneng e lernt haben, ins Bett gehen, ihm beim Sex schmutzige Worte ins Ohr stöhnen und den Rücken dabei zerkratzen , hinterher lasziv eine Zigarette rauchen und ihn mit den Worten: „Mach’s gut, Kleiner!“ aus ihrem Schlafzimmer und gleichzeitig aus ihrem Leben entlassen. Ich bin das nette Mädchen von nebenan, das an die große Liebe glaubt und den Mann sofort ihren Eltern vorstellt, um sich deren Segen abzuholen. One - night - stands sind nicht fester Bestandteil meines Lebens.
Jemand tippt mir von hinten auf die Schulter und ich höre mich kurz aufschreien. Ich war schon immer sehr schreckhaft, aber in den letzten Tagen bin ich geradezu paranoid geworden.
„Julia. Endlich.“ Johann sieht mich vorwurfsvoll an. „Wo hast du denn die ganze Zeit g e steckt? Ich hatte doch gesagt, dass wir uns Punkt Acht am Check-in treffen.“
„Äh, ´ tschuldigung.“ Augenblicklich fühle ich mich schlecht. „Ich dachte du freust dich, dass ich hier bin.“
„Tue ich ja auch“, beteuert Johann und tätschelt mir unbeholfen die Schulter. War Johann schon immer so herablassend?
„Aber doch nicht am Economy-Schalter!?“ Er zieht die buschigen Augenbrauen nach oben. „Du weißt doch, dass ich prinzipiell nur Business Class reise.“
Nein, wusste ich nicht. Ich bin immer noch ein wenig überrascht mit welcher Selbstve r ständlichkeit Johann mich begrüßt hat. So, als wäre er sich seiner Sache von Anfang an ganz s i cher gewesen .
„Woher wusstest du, dass ich kommen würde?“
„Aber Schnuppelchen, ich kenne dich eben.“ Klingt fast ein bisschen mitleidig in meinen Ohren. „Schön, dass du hier bist.“ Johann zieht mich zu sich heran und gibt mir einen Kuss.
Meine Zehenspitzen kribbeln. Warum habe ich mir die Schuhe nur eine Nummer zu klein gekauft? Der Kuss fühlt sich wie ein typischer Johann-Kuss an. Perfekte Zungentechnik, ohne viel Spucke und ohne viel Gefühl. Wenn ich da an Bennis weiche Lippen denke ... Ach, genug davon. Ich habe mich für Johann entschieden. Ob Benni auch an mich denkt ... an meinen Kuss?
„Ich habe uns schon eingecheckt. Weißt du, das geht heute ganz elektronisch“, erklärt er mir weltmännisch. „Wir müssen nur noch deinen Koffer abgegeben.“ Selbstsicher führt er mich zu dem Check-in-Schalter, wo uns eine mürrisch aussehende
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