Holunderküsschen (German Edition)
ich bis vor kurzem dachte, dass ich mein Leben mit ihm verbringen würde. Dies ist der Mann, der mich auf Händen tragen sollte. Dies ist der Mann, der mich mit Titten-Annette betrogen hat.
Während der Schreck abklingt, drohen die alten Gefühle wieder Oberhand zu gewinnen und meine Beine in Pudding zu verwandeln. Sofort denke ich an den Tatort , Abendessen vor dem Fernseher, Wärmekissen und Bio-Schokoriegel. Aber das lasse ich nicht zu. Ich bin jetzt eine andere Julia als die, die er betrogen hat. Ich bin stark und stolz.
„Es tut mir leid, aber ich würde gerne alleine mit Julia sprechen“, sagt Johann zu Katja und meinen Eltern „Wenn es euch nichts ausmacht ...“
„Falls du mich brauchst, ein Zeichen genügt und ich ziehe den Kerl höchstpersönlich an den Eiern nach draußen“, murmelt Katja bevor sie den Raum verlässt. Meine Mutter ruft mir tonlos noch ein „Toi! Toi! Toi!“ zu, während mein Vater sie aus dem Raum zerrt.
Minutenlang sieht Johann mich einfach nur an.
„Du siehst Klasse aus. So schlank und erholt. Hast du was mit deinen Haaren gemacht?" Er lächelt gequält.
„Bist du gekommen, um mich nach meinen Haaren zu fragen?", blaffe ich ihn an. Innerlich freue ich mich allerdings ein wenig, dass er meine Veränderung bemerkt hat. Johann gehört nä m lich zu der Sorte Mann, die normalerweise nicht merkt wenn man beim Friseur war, außer man würde mit eine m Irokesenschnitt nach Hause kommen .
„Julia ...", fängt er erneut an. Das Lächeln ist jetzt aus seinem Gesicht verschwunden.
„... Was zwischen uns ... es ist einfach passiert ... ich habe das eigentlich nicht gewollt ... aber Annette ... es tut mir leid!" Langsam drehe ich den Kopf, mustere ihn, richte den Blick wi e der nach vorne und hole tief Luft. Er sieht mich mit zerknirschter Miene an.
Ich knabbere nervös an meiner Unterlippe und kämpfe mit dem plötzlichen Verlangen nach einer Zigarette. Was erwartet der Mann denn von mir? Dass ich ihm in Tränen aufgelöst in die Arme falle? Einfach alles vergesse und so tue, als wäre die Sache mit Annette niemals passiert? Geht das überhaupt?
Johanns rechtes Auge zuckt ganz leicht. Ein sicheres Zeichen von Nervosität. Ich bin fast gewillt, Mitleid mit ihm zu haben – aber eben nur fast. Ich schweige weiter.
Johann scheint mein Schweigen als eine Art emotionaler Überwältigung zu deuten, jede n falls zieht er mich zu sich heran. „Julia, du brauchst nichts zu sagen. Ich weiß was du fühlst, denn mir geht es genauso.“
Das ist ja sehr interessant! Ich weiß ja noch nicht mal, was ich fühle. Woher also weiß J o hann, was ich fühle?
„Die Nachbarn fragen auch schon wo du steckst. Ich habe ihnen gesagt, dass du zur Kur bist“, fährt Johann fort. Ich glaube er erwartet jetzt von mir, dass ich ihm um den Hals falle und vor Glück seufze, weil er die Situation mit den Nachbarn so bravurös gelöst hat.
„Super!" Ich breche ab und schüttele den Kopf über so viel Ignoranz. Das ist typisch J o hann. Vor lauter Sorge um seinen guten Ruf erzählt er lieber eine Lüge .
Johann ignoriert meine zugegebenermaßen recht knappe Antwort einfach. „Ach ja, ich soll dich von meinen Eltern herzlich grüßen." Das kann nur gelogen sein. Johanns Eltern konnten mich noch nie besonders leiden. Seine Mutter hat mir mehr als einmal zu verstehen gegeben, dass ihr Johann mit mir eine Verbindung unter seinem Niveau eingeht. In ihrer Nähe komme ich mir immer ein bisschen wie Aschenputtel bei ihrer bösen Schwiegermutter vor.
„Danke“, brumme ich.
„Julia, wir müssen reden."
Ich muss nicht.
„Wir müssen über diese Sache mit mir und Annette reden . "
Hatte Johann eigentlich schon immer diesen nervigen Tonfall? Er betont die einzelnen Wö r ter so komisch.
„Julia!"
„Ja, Johann." Ich öffne die Augen und setze mich gerade hin. „Was gibt es da noch zu b e sprechen?“
„Diese Sache mit ..."
„... Annette", helfe ich ihm auf die Sprünge.
„Die hatte nichts zu bedeuten. Das mit Annette war eigentlich nur ein Ausrutscher." Seine Stimme klingt gepresst. „Ich weiß jetzt, dass ich einen Fehler gemacht habe, aber musst du mir gleich die Pistole auf die Brust setzen?"
Ich drehe mich langsam zu ihm hin, sage: „Johann", und atme tief durch. Dabei frage ich mich, ob Annette eigentlich weiß, dass Johann hier ist. „Willst du mir etwa sagen, dass ich e i gentlich schuld an der ganzen Sache bin?“
Er zupft konzentriert und ohne den Blick zu heben einen imaginären
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