Holunderliebe
Lächeln. Sie war sich nicht sicher, ob seine Augen von einem dunklen Grau oder einem dunklen Blau waren – in jedem Fall wirkten sie düster, und auch bei seinem seltenen Lächeln blieben sie ernst, als führten sie ein Eigenleben. Thegan war größer als die meisten Männer, die in der Klosterstadt lebten, aber seine Schultern waren nicht sonderlich breit. Und wenn sie ihn recht betrachtete, dann war seine Gestalt leicht gebeugt, als würden ihn Schmerzen quälen.
Rothild stieß sie von der Seite leicht an. »Hemma, wir müssen weiter. Hast du nicht gesagt, wir wollen Melden sammeln, um ein bisschen frisches Grün auf den Tisch zu bringen? Wenn wir vor dem Nachmittag wieder zu Hause sein wollen, haben wir keine Zeit zu verlieren.«
Die junge Frau nickte. »Stimmt, wir müssen weiter.«
Sie zögerte noch einen Moment, und Thegan nutzte die Gelegenheit. »Wann kann ich euch denn wiedersehen?«
»Wiedersehen? Schickt sich das?«, fragte Rothild streng.
Aber Hemma unterbrach sie. »In zehn Tagen feiern wir das Osterfest. Ich bin mir sicher, dass in der Kirche ein großer Gottesdienst stattfindet, der uns alle erbauen wird. Aber am späten Nachmittag und am Abend wird in der Klosterstadt das Frühlingsfest gefeiert. Du musst unbedingt kommen!«
Rothild sah ihre Freundin strafend von der Seite an. »Was meine Freundin damit sagen will, ist, dass wir uns über deinen Besuch auf unserem Osterfest freuen würden. Von dem grimmigen Winter sollte man sich ordentlich verabschieden – und den neuen Frühling mit offenen Armen begrüßen.«
Der Adelige nickte, ließ Hemma aber nicht aus den Augen. »Keine Sorge, ich werde auf jeden Fall kommen. Recht herzlichen Dank für die Einladung!«
Rothild griff nach Hemmas Ärmel und zog sie weiter. Erst als sie um die nächste Biegung des Uferweges verschwunden waren, zischte sie ihrer Freundin zu: »Was fällt dir ein, so einen hohen Herrn anzusprechen? Einen Gast von Abt Erlebald, einen Kämpfer gegen die Mauren … Dieser Mann ist nichts für dich, Hemma. Du hättest mit ihm nicht einmal ein Wort wechseln dürfen. Mal ehrlich, du hast gesehen, wohin er gegangen ist, gib es zu. Diese Sache mit dem Meldensammeln, das war doch nur ein Vorwand, auf den ich leichtgläubig hereingefallen bin.«
Hemma drehte eine fröhliche kleine Pirouette und strahlte Rothild an. »Und es hat funktioniert! Er kommt auf das Osterfest, ich sehe ihn wieder.«
»Ein Mann des Adels! Wach auf, Hemma – der sieht dich nicht einmal. Und sollte er dich doch sehen, dann nur, weil du so ein hübsches Gesicht hast. Dein Vater wird alles andere sicher zu verhindern wissen. Ein Mann wie dieser Thegan sieht in einem Mädchen wie dir höchstens einen Zeitvertreib.«
»Lass mir doch meine Träume«, verteidigte Hemma sich. »Mein Vater hält mich unter Verschluss, als wäre ich die heilige Jungfrau. Es ist höchste Zeit, dass ich wenigstens in Gedanken ein wenig von Männern träume.«
Ein leises Schnauben von Rothild war die Antwort. »Sei doch dankbar, dass du mit deinem Vater ein so schönes Leben führst. Du hast nicht einmal in den letzten Notzeiten Hunger gelitten, Routger wird immer dafür sorgen, dass du glücklich bist. Das ist mehr, als so manches Mädchen erhoffen kann.« Sie schüttelte mahnend den Kopf. »Außerdem ist es weniger großartig, als du annimmst, bei einem Mann zu liegen. So manche Frau würde lieber als Jungfrau leben, so grob sind sie. Und so ungeschickt mit den Fingern …«
»Das Leben geht an mir vorbei, und ich werde eine alte Jungfer, die nicht einmal ahnt, warum es von Bedeutung sein kann, dass die Finger sich gut bewegen können!«, protestierte Hemma. »Das nennst du mein Glück? Mein Vater achtet eifersüchtig darauf, dass ich niemanden kennenlerne – und er denkt schon gar nicht daran, meine Hand jemals einem Mann zur Ehe zu reichen. Was soll ich darüber dankbar sein? Du musst mir versprechen, dass du ihm nichts von Thegan erzählst, sonst darf ich womöglich nicht zum Frühlingsfest!«
»Warum sollte ich ihm von einem Adeligen erzählen, den wir bei einem Spaziergang getroffen haben und mit dem du einige Worte gewechselt hast?«, fragte Rothild mit nüchternem Ton. »Wahrscheinlich war dieser Mann nur höflich und wird beim Fest der Klosterstadt überhaupt nicht erscheinen. Was soll er bei dem einfachen Volk, wie wir es sind? Da gibt es nichts, was ich deinem Vater erzählen muss, und da wird es auch nichts geben, was ihn beunruhigt. Hör auf zu
Weitere Kostenlose Bücher