Holunderliebe
Wirkung des neuen Tees erproben. Lautes Geschrei an der Klosterpforte zeigte an, dass es einen Notfall gegeben haben musste. Nur wenig später tauchte der Bruder Infirmarius schwer atmend am Gärtchen von Walahfrid auf.
»Sigibold hat sich beim Bretterzurichten für den neuen Schweinepferch übel verletzt. Die Axt ist in sein Bein gefahren, und ich kann den Blutfluss nicht stillen. Bitte, Walahfrid, gibt es nicht doch etwas, das den Blutfluss hemmen kann? Sigibold stirbt mir unter den Fingern weg! Das Leben fließt einfach aus ihm heraus!«
Der Infirmarius sah aufgeregt aus, was ungewöhnlich für ihn war. Es kam nur zu oft vor, dass die Menschen unter seiner Obhut starben. Walahfrid hegte sogar den Verdacht, dass der Besuch des heilkundigen Bruders mit seiner Vorliebe für Aderlass und stinkende Salben das Ableben so manches Hilfesuchenden noch beschleunigte. Eine Meinung, die er sorgsam für sich behielt, um nicht für Unfrieden unter den Mönchen und den Kranken der Klosterstadt zu sorgen.
»Hast du ihm schon einen festen Verband um das Bein gelegt, der den Fluss des Blutes durch die Adern beendet?«, erkundigte sich Walahfrid.
Der Infirmarius nickte verzweifelt. »Ja, aber es fließt weiter!«
Walahfrid dachte einen Augenblick nach und griff dann nach seinem Beutel mit Kräutern. Nach kurzem Zögern warf er den Tiegel mit dem maurischen Kraut dazu. Wenn sonst nichts half, dann konnte es ja womöglich am heutigen Tag seine Wirkung zeigen. Er nickte dem Infirmarius zu. »Dann sollten wir uns beeilen, um Bruder Sigibold noch lebend anzutreffen.«
Der Mönch lief fast im Laufschritt vor ihm her zum Krankenraum. Sigibold lag auf einem niedrigen Bett, sein Gesicht war von Schweiß überzogen, und er atmete nur noch schwach. Um seinen Oberschenkel lag ein fest geschnürtes Tuch, das von Blut durchtränkt war. Walahfrid deutete darauf. »Ist dort die Wunde?«
»Ja, sie liegt direkt darunter.«
»Dann solltest du die feste Binde etwas oberhalb der Wunde anbringen. Mit ein wenig Glück hört die Blutung dann schon auf!« Gleichzeitig rührte Walahfrid einen bewährten Trank aus Arnika an, der schon vielen Verletzten geholfen hatte. Er flößte ihn dem nur noch schwach stöhnenden Zimmermann ein, der kaum noch zu merken schien, was mit ihm geschah. Seine Haut war fahl, und die Lippen wirkten ungesund und blass. Der Infirmarius schien mit seinen Befürchtungen recht zu behalten: Es sah nicht so aus, als könne Sigibold diese Verletzung mit einer festen Binde und ein wenig Arnika überstehen.
Entschlossen griff Walahfrid in seinen Beutel und holte den Tee aus dem maurischen Kraut heraus. Wenn Thegan damit überlebt hatte, dann konnte das womöglich auch Sigibold. Zumindest wenn der Herr ihm ein klein bisschen wohlgesinnt war.
Augenblicke später hielt er den gelblichen Tee an die Lippen des Zimmermanns. »Trink!«, befahl er ihm und schickte gleichzeitig ein Gebet an den Herrn, dass dieser Tee jetzt seine heilkräftigen Wunder vollbringen sollte.
Sigibold schloss seine Augen und atmete flach weiter. Walahfrid beobachtete ihn ein Weilchen, beugte sich dann zum Infirmarius und flüsterte: »Du solltest darüber nachdenken, ihm die letzte Ölung zu verabreichen. Ich glaube nicht, dass wir etwas für ihn tun können. Er wird diese Nacht nicht überleben, denke ich. Es ist Zeit, dass du die Brüder zum Gebet zusammenrufst.«
Sein Mitbruder nickte nur und griff nach den Utensilien, die hier im Krankenraum immer bereitstanden. Walahfrid erhob sich, senkte seinen Kopf zu einem kurzen Gebet und machte sich dann auf den Rückweg in den Teil des Klosters, in dem das Leben vorherrschte. Er scheute die Begegnung mit dem Tod, egal wie sehr er an ein ewiges Leben glauben wollte.
An diesem Abend kämpfte er lange um Schlaf. Der im Sterben liegende Mönch ging ihm nicht aus dem Kopf. Wie nur hatten die Mauren dieses Kraut eingesetzt, um ihm seine heilkräftige Wirkung zu entlocken? Er beschloss, die Wurzeln im Herbst in Honig einzulegen. Womöglich war das eine Lösung. Oder lag die Kraft doch in den zarten purpurfarbenen Blüten? Natürlich sollten auch irgendwann Samen entstehen – die kleinen Kugeln mussten auf jeden Fall wieder gesammelt werden, damit man im nächsten Jahr weiterexperimentieren konnte. Obwohl … wenn er die Heilkraft erst im nächsten Jahr freisetzen konnte, dann war es sicher zu spät für die zarte Freundin von Thegan.
Mit einem Seufzer wälzte Walahfrid sich auf die andere Seite und verfluchte
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