Holunderliebe
müsste alleine aufwachsen. Nein, dann habe ich lieber meine Beete und behandele meine Pflanzen wie meine Kinder.«
»Das ist doch Schwachsinn«, platzte es aus mir heraus. »Das Leben ist eine riskante Sache, und am Schluss stirbt man. Das ist keine Neuigkeit. Es geht doch darum, was man im Leben erreicht und was man wagt.«
»Jetzt klingst du so wild und frei.« Simon schüttelte den Kopf. »Aber wozu nützt du deine Freiheit? Ich weiß wenigstens, was ich will – und vor allem, was nicht. Diese Freiheit nehme ich mir.«
Einen Augenblick war es still zwischen uns. Dann fragte ich vorsichtiger nach: »Ist das alles wegen deiner Eltern? Was ist denn damals wirklich passiert?«
»Es war ein Verkehrsunfall«, erklärte er und wirkte mit einem Mal wortkarg. »Du solltest noch mal über deine Freiheit nachdenken. Wirklich frei ist man nur, wenn man seine Freiheit auch einsetzt. Einsetzt für irgendetwas, das einem wichtig ist. Einfach vor sich hin leben – das heißt doch eigentlich nur, dass man keine Entscheidung treffen mag.«
Etwas überrascht sah ich ihn an. »Warum bist du denn plötzlich so streng? Es ist doch nicht schlimm, wenn man jung ist und noch nicht weiß, wo das Leben hinlaufen wird? Ich für meinen Teil bin eigentlich ganz dankbar, noch keinen detaillierten Plan bis zur Rente zu haben. Wenn ich jetzt Kinder planen würde und dann feststellen müsste, dass ich keine bekommen kann – das wäre doch traurig. Momentan kann ich mir mein Leben sowohl mit als auch ohne eigene Kinder vorstellen. Ich denke, ich suche mir meinen Weg erst im Gehen.«
Simon runzelte die Stirn. »Wenn du dich damit wohlfühlst, dann ist das in Ordnung. Ich mag einfach keine Überraschungen.«
Für einen Augenblick wurde es still im Zimmer. Die Uhr an der Wand tickte in meinen Ohren unangenehm laut. Ich fühlte mich betrogen um die harmonische Stimmung, die wir bis vor wenigen Minuten genossen hatten. Mit einem leisen Räuspern stand ich auf.
»Vielleicht ist es besser, wenn ich jetzt gehe. Es ist ja auch schon spät. Kann ich morgen vorbeikommen? Vielleicht erkennst du im Tageslicht ja, was diese geheimnisvolle Ambrosia im Hortulus wirklich ist!«
Etwas verlegen reichte Simon mir zum Abschied die Hand, zögerte einen Augenblick und nahm mich dann in den Arm, um mir einen vorsichtigen Kuss auf die Wange zu drücken.
»Sei nicht böse, aber ich habe eben etwas eigenwillige Ansichten«, sagte er. »Bis morgen!«
Ich ging durch die milde Frühlingsnacht zurück zu meiner Pension. Trotz der Umarmung am Schluss blieb ein etwas ungutes Gefühl zurück. Was war nur passiert? Nachdenklich setzte ich einen Fuß vor den anderen. Der Mond zeichnete eine schmale Sichel am Himmel, und die Sterne funkelten in der unendlichen Milchstraße wie schon seit Jahrtausenden.
Gedankenverloren stieg ich die Treppe zu meinem kleinen Pensionszimmer hoch und öffnete die Tür. Dass sie unverschlossen war, beunruhigte mich nur einen winzigen Augenblick: Es kam öfter vor, dass ich vergaß, Türen hinter mir abzusperren.
Im dunklen Zimmer blieb ich stehen und atmete tief durch. Hatte Simon recht mit dem, was er mir vorwarf? Oder fehlte ihm durch den frühen Verlust seiner Eltern womöglich jedes Vertrauen in das Leben und seine verworrenen Wege?
»Spät geworden?«, erklang in diesem Augenblick eine vertraute Stimme aus der Zimmerecke. Mein Herz setzte vor Schreck für einen Augenblick aus. Panisch tastete ich nach dem Lichtschalter – und fluchte lauthals los, als ich im Licht der Deckenlampe sah, wer dort saß. »Was zum Teufel tust du hier? Mich erschrecken? Nachprüfen, wie mutig ich bin? Du Vollidiot!«
Im hellen Lampenlicht saß Erik und lächelte mich selbstzufrieden an. »Du wirst doch nicht etwa vor mir erschrecken?«
»Warum steigst du mir auf dieser gottverlassenen Insel plötzlich nach, wo du mich in Münster doch kaum noch sehen wolltest? Was ist los mit dir?«
Erik hob besänftigend seine Hände. »Jetzt mach doch keinen Aufstand. Bei deinem Geschrei wird ja die ganze Pension wach! Ich wollte dir doch nur erzählen, was ich heute herausgefunden habe!«
»Was könnte so spannend sein, dass es nicht Zeit bis morgen früh hätte?«, knurrte ich. »Mir hier in meinem Zimmer aufzulauern … Hast du völlig den Verstand verloren?«
»Nein!«, erklärte Erik, dem das triumphierende Lächeln einfach nicht aus dem Gesicht weichen wollte. Er zog ein paar Papiere aus seiner Tasche, die aussahen wie Ausdrucke von Zeitungsartikeln.
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