Holundermond
Ich muss ohnehin schnell die anderen wecken.«
Theo, wie Anna ihn genannt hatte, würdigte sie keines Blickes.
Als Nele sich dem Tisch näherte, zuckte Theo zusammen. Sofort wich Nele zurück.
»Nun mach schon«, flüsterte Flavio ihr zu.
Nele fuhr herum. »Ich weiß nicht, was ich ihn fragen soll.« Nervös trat sie von einem Fuß auf den anderen. »Er wird sowieso nichts wissen.«
»Na, das werden wir ja sehen.« Energisch schob Flavio sich an Nele vorbei und setzte sich zu dem fremden Mann an den Tisch. »
Buongiorno
, Theo! Ich bin Flavio und das hier ist Nele.« Der Mönch leckte sich die Marmelade von den Fingern und griff unbeeindruckt zur Kaffeetasse. »Wir haben gestern gehört, was du über die Elemente Gottes gesagt hast.« Nele starrte auf die Hand des Mannes, die so plötzlich in der Bewegung innehielt, dass der heiße Kaffee aus der Tasse schwappte und über den Tisch lief. Nele trat hinter Flavio und legte eine Hand auf seine Schulter.
Langsam hob der Mönch den Blick und schaute von Flavio zu Nele. Dann stand er auf, schob seinen Stuhl zurück und nickte mit dem Kopf in Richtung Tür.
»Kommt mit!« Er drehte sich um und ging ihnen voraus. Und mit einem Mal wusste Nele, was an ihm so ganzanders war, als sie erwartet hatte. Er sah nach wie vor müde aus, das stimmte schon, aber er war kein gebrochener Mensch, wie sie es sich vorgestellt hatte. Er wirkte in der Gruft nicht wie ein hilfloser Gast, sondern vielmehr schien er der Gastgeber, der Hausherr zu sein, dessen Weisungen sich alle fügten. Es kam ihm offensichtlich überhaupt nicht in den Sinn, dass sie seiner Aufforderung vielleicht nicht nachkommen würden, denn er schaute sich kein einziges Mal um.
Flavio setzte sich in Bewegung, doch Nele hielt ihn am Hemd fest.
»Na los.« Flavio wand sich aus ihrem Griff.
»Warte! Hast du keine Angst? Du weißt doch überhaupt nicht, wo der hinwill!«
»Wo soll der schon hinwollen.« Flavio rollte mit den Augen. »Irgendwohin, wo ihm keiner zuhört, nehme ich an. Und das könnte ja auch für dich verdammt wichtig sein, oder irre ich mich da?«
In der offenen Tür drehte sich der Mönch zu ihnen um und sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. Flavio fasste Nele am T-Shirt und zog sie hinter sich her.
Sie folgten Theo durch einen schmalen Gang, von dem mehrere Türen abgingen. Es roch nach Schweiß, nach Alkohol und nach Desinfektionsmittel. Nele versuchte sich vorzustellen, wie es sein mochte, kein Zuhause zu haben. Unwillkürlich griff sie nach ihrem Glücksstein. Sie konnte es sich nicht vorstellen. Auch wenn sie sich momentan so fühlte, als wäre sie aus ihrer gewohnten Umgebung vertriebenworden, so war es doch nicht das Gleiche. Schließlich zogen sie und Lilli nur in eine andere Wohnung, die über kurz oder lang ihr neues Zuhause werden würde. Doch es blieb keine Zeit, weiter darüber nachzudenken.
Sie sah, wie Theo vor einer Tür anhielt und sie aufstieß.
»He, was soll das? Kannst du nicht anklopfen?« Schwerfällig setzte sich ein alter Mann in seinem Bett auf. Er trug einen zerknitterten blau-weiß gestreiften Pyjama. Sein Gesicht verschwand hinter dem wildesten grauen Bart, den Nele je gesehen hatte. Nur die Augen funkelten daraus hervor. Verlegen wandte Nele den Blick ab.
»Was wollen die denn hier?« Erschrocken zog sich der Mann die Bettdecke bis unter das Kinn, als er Nele und Flavio bemerkte.
»Geh dich waschen und zieh dich an. Das Frühstück ist fertig.« Theo drückte dem Alten ein Bündel Kleider in den Arm, das er vom Fußboden aufgehoben hatte, half ihm vom Bett hoch und schob ihn aus dem Zimmer. »Kommt rein!« Er blieb in der offenen Tür stehen und wartete, dass Nele und Flavio seiner Aufforderung Folge leisteten. Nele griff nach Flavios Hand.
Der seufzte laut. »Los, los! Er wird uns schon nicht nicht fressen. Lass uns wenigstens anhören, was er zu sagen hat.«
Nur sehr widerwillig folgte Nele Flavio in den winzigen muffigen Raum, der nichts enthielt außer zwei Betten, zwei Stühlen und einem kleinen Schrank. Dann fiel ihr Blick auf ein Foto, das an der Wand klebte.
»Flavio, da!« Es war eine alte Postkarte, eine Aufnahme der Kartause Mauerbach. Und daneben hing fein säuberlich aus einer Zeitung herausgetrennt das Portrait des Wiener Historikers Dr. Stephan Holzer. Nele öffnete den Mund, als ein Geräusch sie herumfahren ließ.
Der Mönch hatte die Zimmertür abgeschlossen und steckte den Schlüssel in die Falten seiner Kutte. Dann drehte er sich zu ihnen
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