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Holundermond

Holundermond

Titel: Holundermond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Wilke
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haltet ihr davon?« Lächelndschaute sie Nele und Flavio an. »Ach übrigens, ich heiße Anna, und ihr?«
    Flavio stellte erst Nele und dann sich vor, und ehe sie sich’s versahen, waren sie dabei, Brötchenhälften mit Marmelade zu bestreichen und auf Tellern anzurichten.
    Jetzt mussten sie nur noch herausfinden, ob Anna schon mal dem verrückten Mönch begegnet war, dachte Nele. Flavio hatte ja gesagt, er sei ein bekannter Obdachloser.
    »Was für Menschen kommen denn hierher in die Gruft?« Fragend sah Nele Anna an.
    »Wir nennen sie Sandler, manche sagen auch Penner oder Landstreicher«, erwiderte Anna lächelnd. »Landstreicher klingt sehr romantisch. Aber mit Romantik hat das hier gar nichts zu tun. Bei uns finden Menschen Unterschlupf, die so ziemlich alles verloren haben. Nicht nur ihre Wohnung, sondern auch ihre Familie, ihre Freunde und ihren Beruf.« Anna seufzte. »In der Gruft können die Obdachlosen nicht nur schlafen und essen, sie können auch duschen und sich von unseren Ärzten behandeln lassen. Vorausgesetzt sie wollen das.«
    »Es gibt welche, die keine Hilfe
wollen

    »Manchmal.« Anna griff nach einer Tasse und schenkte sich einen Kaffee ein. »Stell dir vor, du hättest keinen einzigen Menschen auf der Welt, zu dem du gehen kannst, niemanden. Keinen Ort, der dein Zuhause ist, keine Tür, die du hinter dir zumachen kannst. Egal wo du auch hingehst, die Leute rümpfen die Nase über dich, du wirst weggejagt.« Anna nahm einen Schluck Kaffee. »DieseMenschen müssen erst wieder lernen, dass es auch Leute gibt, die ihnen nichts Böses wollen.«
    »Wie der verrückte Mönch«, entfuhr es Nele.
    Anna nickte. »Ja, wie der verrückte Mönch. Du kennst ihn?«
    »Wir haben ihn gestern auf dem Naschmarkt gesehen«, sagte Flavio schnell. »Der roch aber nicht so, als ob er schon mal in der Gruft war zum Waschen.«
    »Doch, er kommt ab und zu. Heute Nacht hat er auch bei uns geschlafen. Eigentlich ist er ein ganz netter Kerl. Er sieht gefährlicher aus, als er wirklich ist.« Anna drückte Nele zwei Teller in die Hand, schnappte sich selbst zwei Kaffeetassen und bedeutete ihnen mit einem Kopfnicken, ihr zu folgen. »Er hat nur leider, wie so viele hier, eine Menge Probleme. Und sowie er genug Wein getrunken hat, fängt er an zu fantasieren und verrückte Geschichten zu erzählen.« Sie stellte die Teller auf einen der kleineren Tische.
    Nele atmete tief durch. Vorsichtig stellte sie die Tassen auf den Tisch. Der Mönch war hier! In der Gruft! Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie hatte einfach nur gehofft herauszubekommen, wo sie ihn finden konnten. Aber er war hier. Ob er überhaupt bereit war, mit ihr zu reden? Sie drehte sich um und fiel fast über Flavio, der abrupt stehen geblieben war und Richtung Eingang starrte. Nele folgte seinem Blick.
    Ein großer Mann in einer dunklen langen Kutte hatte den Speiseraum betreten.
    Der Mönch.
    Er hatte nichts mehr mit dem betrunkenen übel riechenden Obdachlosen zu tun, der sie am Tag zuvor so erschreckt hatte.
    Gestern war er ihr böse vorgekommen, bedrohlich, mit seinen langen schwarzen Haaren, die ihm fettig in die Stirn gefallen waren. Mit seiner abgerissenen Kutte, die so erbärmlich gestunken hatte. Mit seiner lauten Stimme und der erhobenen Faust. Wie ein Racheengel war er zwischen die Menschenmenge gefahren und hatte sie auseinandergetrieben.
    Heute ging nichts Bedrohliches von ihm aus. Er trug ein sauberes Gewand, seine Haare waren gewaschen und hingen ihm nicht mehr strähnig ins Gesicht. Er sah müde aus. Erschöpft. Aber da war auch noch etwas anderes. Etwas, das so gar nicht in das Bild passen wollte.
    »Ah, da kommt er ja schon.« Anna lachte. »Guten Morgen, Theo! Hast du gut geschlafen?«
    Er war größer als in Neles Erinnerung. Mit einem kurzen Nicken grüßte er Anna und ging zu einem der Plätze, die sie gerade eingedeckt hatten. Fasziniert beobachtete Nele, wie er vor dem Tisch stehen blieb, die Hände faltete, die Augen schloss und ein stummes Gebet sprach. Dann schlug er das Kreuz und setzte sich. Er fing an zu essen, ohne Notiz von ihr oder Flavio zu nehmen.
    Als Nele ihn jetzt vor dem Kaffeebecher sitzen sah, empfand sie fast Mitleid mit dem Mann, der in seiner Kutte so gar nicht hierher passen wollte.
    »Theo, schau, wir haben Besuch.« Anna schob Nele ein Stückchen nach vorne. »Das hier sind Nele und Flavio. Die beiden wollen ein bisschen was über die Gruft erfahren und über euer Leben. Magst du ihnen nicht ein wenig erzählen?

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