Holz und Elfenbein
Selbstdisziplin zu verdanken, dass er sich in der Tat in die Bibliothek geschleppt und dort den halben Tag zwischen den Bücherregalen zugebracht hatte. Im Licht der Neonlampen und in der trockenen Luft, den Geruch der zahllosen Seiten aus Papier in der Nase, vergaß er völlig die Zeit. Laut seinem Handy hatte er fast sechs Stunden gearbeitet, kein Wunder, dass ihm sein Rücken wehtat. Federico hatte sich nicht gemeldet, nicht einmal eine SMS hatte er geschickt. Alexis überlegte, ob er den Pianisten anrufen sollte, aber dann entschied er sich dagegen. Wenn Federico nicht wollte und höchstwahrscheinlich noch immer vor seinem Flügel saß, dann konnte sich Alexis auch die Zeit mit einer ganz bestimmten Schönheit vertreiben.
Allein der Gedanke an sie, rief ein nicht unangenehmes Kribbeln in seinen Fingerspitzen hervor. Schnell packte Alexis seine Aufzeichnungen zusammen und holte seinen Rucksack aus dem Schließfach. Auf dem Weg zu seinem Rendezvous ging er bei einem Chinesen noch auf eine Portion gebratene Nudeln vorbei. Seine Orgelschuhe hatte er zum Glück noch in seiner Tasche eingepackt gehabt, so dass er nicht noch bei ihrer Wohnung vorbeigehen musste und damit wertvolle Zeit vergeudet hätte.
Die kleine katholische Kirche stand in einer Sackgasse nicht allzu weit entfernt, Alexis musste nicht einmal den Bus nehmen. Wie erwartet war die Kirche leer, nur eine alte Frau saß vor dem Kerzenständer, den Rosenkranz in der Hand. Vielleicht betete sie für einen lieben Angehörigen, vielleicht für sich selbst. Alexis konnte erkennen, dass sie sich bereits im letzten Gesetz des Rosenkranzgebetes befand und er setzte sich selbst in eine der Kirchenbänke. Er wollte sie nicht in ihrem Gebet stören und ihm selbst würde es auch guttun einmal wieder in Ruhe in einer Kirche zu sitzen. Meistens ging er ja in diese Gebäude um zu arbeiten, nicht um zu beten. Das Gemäuer schloss ziemlich effektiv den Straßenlärm aus. Die Stille war fast schon greifbar. Ab und an drang das gewisperte Gebet der Alten an sein Ohr. Es war zwar Russisch, aber trotzdem betete Alexis für sich mit. Er war zwar Engländer, aber da die Familie seiner Mutter ursprünglich aus Irland stammte, waren er und seine Schwestern katholisch getauft und auch so erzogen worden. Es mochte vielleicht verwundern, dass ausgerechnet er, er ein Homosexueller, so an seinem Glauben und der römisch-katholischen Kirche festhielt. Ja, die Amtskirche sah in Menschen wie ihn und Federico eine Abnormität, aber Alexis kannte auch Priester, die das etwas anders sahen. Die Kurie in Rom mochte vieles bestimmen, es gab zu guter Glück auch noch Geistliche, die in den Kirchen vor Ort näher am Menschen waren. Für den Priester, der ihn getauft und von dem er später auch die erste heilige Kommunion empfangen hatte, war es nie ein Thema gewesen, dass Alexis sofern er in den Ferien in England gewesen war, die Orgel während der Gottesdienste gespielt hatte. Damals hatte es in der Gemeinde schon jeder gewusst, dass ›der Kleine, der Arrowfields‹ etwas anders tickte als die übrigen Jungs im Dorf.
Die alte Dame packte den Rosenkranz weg und erhob sich mühsam von ihrem Platz. Alexis lächelte ihr zu und ging dann zum Altar, dort in einer kleinen Nische befand sich der Schlüssel zur Empore, wo die Orgel untergebracht war. Ein kleines, feines Schmuckstück der Orgelbaukunst. Sie war eine echte Französin, vor fast hundert Jahren im Elsass gebaut. Eine Schönheit, aber auch etwas zickig, vor allem jetzt, wenn ihr die Kälte zu schaffen machte. Jedoch hatte Alexis nicht vor hier ein Konzert zu geben, er wollte einfach nur ein bisschen Orgel spielen. Da benötigte er nicht die ausgefallenen Register, für ihn tat es ein einfacher Prinzipal und vielleicht noch eine Flöte. Er schlüpfte aus seinen Stiefeln und zog die Lederschuhe an, die er zum Spielen benützte. Seine mittlerweile fast schon legendären blauen Schuhe.
Mit einer fließenden Bewegung schwang er sich über die Orgelbank und legte die Hände an die Register. Spätestens als er die ersten Takte gespielt hatte, wurde sein Kopf wieder frei. Das mochte zwar unfair gegenüber Federico sein, aber Alexis war sich sicher, dass es seinem Partner da nicht anders erging. Die Musik war nun einmal ihrer beider Leidenschaft. Außerdem war es ja nur gesund für eine Beziehung, wenn beide Partner auch ihre eigenen Freiräume hatten. Nun ja, das klang in der Theorie gut und schön. Alexis hätte schon gerne etwas mehr Zweisamkeit
Weitere Kostenlose Bücher