Holzhammer 02 - Teufelshorn
hatte kein blaues Cape übergestreift, sondern Rock und Bluse gegen Berghose und Funktionsshirt getauscht. Die Bergstiefel konnte sie noch nicht anziehen, weil es sich damit schlecht Auto fahren ließ.
Christine fuhr Richtung Hinterbrand, als vor ihr plötzlich ein Schild auftauchte: «Straße gesperrt wegen Asphaltierungsarbeiten». Christine überlegte. Sollte sie das Schild ernst nehmen? Schon öfter hatte sie mitbekommen, dass Warnschilder nur für Touristen zu gelten schienen – jedenfalls nach Überzeugung der Einheimischen. Was zum einen damit zusammenhing, dass der durchschnittliche Einheimische sich dem durchschnittlichen Gast in Sachen Geländegängigkeit überlegen fühlte. Stand irgendwo ein Schild mit der Aufschrift «Vorsicht Lebensgefahr!», «Abgerutschter Steig!» oder «Durchgang verboten!», dann wurde es von den meisten Berchtesgadenern ignoriert, weil sie der Meinung waren, dass an dieser Stelle aufgrund besserer Technik für sie eben keine Lebensgefahr bestand. Doch auch Wegsperrungen aus anderen Gründen wurden gern ignoriert. Ob Holzfällerarbeiten oder gar Sprengungen. Es musste ein tief verwurzelter Widerwille gegen jegliche Art von Gängelung sein, die den Berchtesgadener erhobenen Hauptes an solchen Schildern vorbeigehen oder -fahren ließen. Angeborener Anarchismus. Im Grunde fand Christine das sympathisch – wobei sie selbst natürlich niemals an einem Schild «Vorsicht Sprengarbeiten» vorbeigelaufen wäre, nicht einmal an Feiertagen oder nachts.
Aber jetzt – Asphaltierungsarbeiten? Voll assimiliert, fuhr Christine einfach weiter. Bald tauchte ein weiteres Schild auf. Diesmal stand es mitten auf der schmalen Straße: «Durchfahrt gesperrt wegen Asphaltierungsarbeiten». Doch Christine hatte inzwischen der Ehrgeiz gepackt. Das wollte sie doch mal sehen. Sie atmete tief aus, damit das Auto schmaler wurde, und wand sich um das Schild herum.
Auf ihrer rechten Schulter saß so etwas wie das schlechte Gewissen aus der alten Waschmittelwerbung und schimpfte. Auf der linken Schulter saß die werdende Berchtesgadenerin in ihr und grinste breit. Noch ein Schild stand auf der Straße – wieder fuhr sie drum herum, ohne im Abgrund zu landen. Schließlich traf sie auf diverse Straßenbaufahrzeuge, die in einer Ausweichbucht geparkt waren. Dort stand auch ein teerverschmierter Mann in Orange und winkte bremsend mit der Hand. ‹Oha›, dachte Christine, ‹jetzt hab ich es doch zu weit getrieben mit der Anarchie›, und rechnete fest mit einer bayerischen Schimpftirade. Sie kurbelte die Scheibe runter, um den Rüffel und die Order zum Umkehren in Empfang zu nehmen.
«Fahr langsam, da hinter der Kurve stengen’s» war jedoch das Einzige, was der Teermann zu ihr sagte. Christine hatte inzwischen ein BGL-Nummernschild, und sie hatte den Mund nicht aufgemacht. Nur so hielt man sie für eine Einheimische – und duzte sie entsprechend.
Christine bog langsam um die Kurve. Dort standen einige Arbeiter und ein großer Lastwagen mit Teer. Fast sah es so aus, als wäre es unmöglich, an dem großen Fahrzeug vorbeizukommen. Aber der erste Teermann hatte gesagt, sie solle fahren. Also fuhr sie. Die Truppe trat bereitwillig beiseite. Dann lief ein Arbeiter vor, um sie per Handzeichen dirigieren zu können. Da der alte Asphalt bereits abgetragen war, musste sie zwischen einem sehr hohen Bordstein und dem Laster hindurchzirkeln. Ihr rechter Außenspiegel glitt in drei Zentimeter Entfernung am Teerwagen vorbei. Als sie durch war, rief einer der Straßenarbeiter: «Bestanden!»
Christine winkte den Männern und fuhr weiter die gesperrte Straße hinauf. Sie fühlte sich heldenhaft und dazugehörig. Bald kam sie am Gasthof Vorderbrand vorbei und erreichte schließlich den großen Parkplatz am Hinterbrand, auf Höhe der Mittelstation der Jennerbahn. Von hier starteten die meisten Wanderer, die nicht mit der Seilbahn aus dem Tal kamen. Diese Straße auf rund 1100 Meter Seehöhe war während der NS-Zeit ausgebaut worden, ebenso wie die heute mautpflichtige Rossfeld-Ringstraße. Es hatte sogar Pläne gegeben, eine Straße quer durchs Steinerne Meer zu bauen. Dann würde es da oben heute zugehen wie an der Glocknerstraße. Christine stellte sich hupende Autos und röhrende Motorräder am Funtensee vor. Das war ja gerade noch mal gutgegangen.
Sie parkte und zog die Bergschuhe an. Früher hätte sie «Stiefel» gesagt. Aber Bergstiefel hießen nun mal Bergschuhe. Genauso wie Beine Füße hießen. Im Bayerischen
Weitere Kostenlose Bücher