Holzhammer 02 - Teufelshorn
«abzufahren», war es zu steil. Aber sie würde versuchen, vorsichtig nach unten zu gelangen, einen Schritt nach dem anderen.
Jetzt wurde es auch wirklich Zeit. Die Sonne stand zwar noch am Himmel, aber in die Rinne schien sie schon seit einer Stunde nicht mehr hinein. Plötzlich kam ein mehrere Meter hoher senkrechter Absatz in Sicht, über den die Steine mit ohrenbetäubendem Lärm hinunterpolterten. Mit aller Kraft kämpfte Christine gegen den Schutt, der sie hinunterspülen wollte. Sie kroch seitlich einen steilen Felsen hinauf, der durch kleine Leisten begehbar war, und hoffte, dass es einige Meter weiter vielleicht eine Möglichkeit zum Abklettern gab. Inzwischen dämmerte es.
Tatsächlich ging es auf der anderen Seite des winzigen Sattels hinunter. Aber es wurde immer steiler und rutschiger, und dann war Schluss. Christine musste umdrehen. Sie hatte Mühe, auf dem steilen, mit feinem Schotter bepuderten Fels die Richtung zu ändern. Ihre Schuhe glitten ab, es gab nichts, was man als Stufe benutzen konnte. Spitze Steinchen bohrten sich in ihre Handflächen, als sie auf allen vieren den Fels mühsam wieder hinaufkletterte. Inzwischen konnte sie kaum noch die Hand vor Augen sehen. Sie kam wieder zu dem winzigen Sattel. Dann war es dunkel.
Natürlich hatte sie eine Stirnlampe dabei. Aber die war nicht kräftig genug, um in ihrem Licht an unbekannten Felsen herumzuklettern. Das wäre Wahnsinn gewesen. Nein, hier war Endstation. Hier, auf diesem kleinen Fleck, der gerade genug Platz zum Sitzen bot. Zum Liegen war er zu klein. Und damit nützte der tolle Biwaksack, den sie dabeihatte, gar nichts.
Dr. Dr. Christine Müller-Halberstadt saß auf ihrem Felsvorsprung und wusste nicht weiter. Wie war sie nur in diese Lage gekommen? Sie hatte schon oft im Berchtesgadener Anzeiger von ähnlichen Fällen gelesen. Und sie hatte immer den Kopf geschüttelt über die Dummheit der Leute. Wieso gingen die irgendwohin, wo sie dann nicht wieder wegkamen? Jetzt wusste sie es. Es passierte. Es passierte auch Leuten, die sonst durchaus in der Lage waren, zwei und zwei zusammenzuzählen. Keins ihrer diversen Studienfächer hatte sie davor bewahrt, einfach immer weiterzuklettern, bis es keinerlei Optionen mehr gab. Dabei hatte sie sich schon für einen halben Profi gehalten.
Vorsichtig, um auf dem kleinen Vorsprung nicht das Gleichgewicht zu verlieren, nahm Christine ihren Rucksack ab. Richtig, da waren noch einige Müsliriegel. Verhungern würde sie vorerst nicht. Verdursten? In ihrem Trinksack befand sich noch mehr als ein halber Liter Wasser. Nein, das war alles nicht das Problem. Das Problem war: Ihr war die Sache peinlich. Wie hatte sie so blöd sein können? Warum hatte sie sich in diese Lage manövriert, in der ihr nichts anderes übrigblieb, als um Hilfe zu rufen? Denn darauf würde es hinauslaufen, das war ihr inzwischen klar. Der Felssporn aus Ramsaudolomit, auf dem sie hockte, würde nicht flacher werden, jedenfalls nicht in den nächsten hundert Jahren. Ihre Kletterkünste würden nicht wachsen, auch morgen früh nicht. Wenn sie bis dahin nicht längst hinuntergefallen war.
Christine stellte sich vor, was passieren würde, wenn sie einschlief. Nein, mit ein bisschen Rutschen und ein paar Abschürfungen wäre es dann nicht getan. Im besten Fall würde sie den Absatz hinunterfliegen, der sie auf der rechten Seite am Abklettern durch die Rinne gehindert hatte. Und dann immer weiterrollen, während die gesamte Schuttrinne ihr nachfolgte. Selbst wenn sie den Flug überlebte, würde sie von nachfolgenden Steinen aller Größen bombardiert werden. Wenn sie hingegen nach links hinunterkippte, ging es gleich so steil los, dass sie bereits nach ein paar Metern fast Fallgeschwindigkeit erreichen würde. Es war ganz egal, was weiter unten passierte, ob sie bereits im Vorbeiflug mit dem Kopf gegen einen Felsen schlagen oder sich beim Sturz über einen Abbruch das Rückgrat brechen würde. All dies überlegte sie ganz rational. Warum war sie eigentlich nicht in Panik? Vielleicht weil es bei Reizen eine Sättigungsgrenze gab. Wenn alle Rezeptoren besetzt waren oder der gesamte Transmitterstoff verbraucht war, gab es keine Steigerung mehr.
Zum Glück war das Wetter stabil. Das war das Einzige, was sie richtig gemacht hatte: Sie hatte direkt vor dem Start noch einmal auf die einschlägigen Wetterportale geschaut und sich vergewissert, dass es den ganzen Tag schön bleiben würde.
Christine holte ihr Handy heraus und überlegte, wen
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