Holzhammer 02 - Teufelshorn
Kick. Vermutlich war das bei allen Bergwanderern und Bergsteigern so, vom Rentner bis zum Extremkletterer. Nur in unterschiedlicher Dosis.
Die Suche nach dem alten Weg war die eine Sache. Die andere war, dass der Weg laut Führer einige «ausgesetzte Passagen» enthielt – eine Herausforderung an ihren Mut – sowie «einige Kletterstellen im zweiten Grad» – eine Herausforderung an ihre körperliche Gewandtheit. Es war also von vornherein klar gewesen, dass es kein Spaziergang werden würde, kein Ziel, das mit hundertprozentiger Sicherheit erreicht werden konnte. Und genau das hatte sie magisch angezogen.
Ihre erste Bergwanderung war sie noch völlig naiv angegangen, ohne Bewusstsein für irgendwelche Gefahren und ohne Ausrüstung für Schlechtwetter oder ungeplante Übernachtungen. Inzwischen hatte sie mächtig aufgerüstet, aber weder Biwaksack noch Stirnlampe, Höhenmesser oder Regenschutz hatte sie vor dieser Situation bewahren können. Nur eins kam ihr jetzt sehr zugute: die Mitgliedschaft im Alpenverein. Der würde die Rettungskosten übernehmen.
Ihr Handy klingelte: «Hier ist die Bergwacht, Einsatzleiter. Sagen Sie bitte noch mal genau, wo Sie san.»
Christine beschrieb ihren Standort, so genau sie konnte. Der Einsatzleiter kannte seine Berge natürlich. Aber den Weg, den sie gesucht hatte, den kannte er nicht. Der war offensichtlich schon seit vielen Jahren völlig out.
«Also, der Hubschrauber kann nicht fliegen bei der Dunkelheit. Wir müssen Sie zu Fuß holen. Es kommen jetzt erst mal zwei Leit mit Motorrad den Forstweg hoch und steigen dann zu Fuß weiter auf. Wenn Sie Licht sehen, machen Sie Ihre Stirnlampe an, dass man Sie sieht.»
«Ja, ist gut.» An ihrem Standort hatte sie sowieso nicht mit einem Hubschrauber gerechnet. Der kam ja gar nicht in die Rinne rein.
Eine halbe Stunde lang saß sie wieder allein im Dunkeln. Dann hörte sie Motorengeräusch, das zuerst lauter wurde und dann erstarb. Christine knipste ihre Stirnlampe an und stellte sie auf die hellste Stufe. Sehen konnte sie nichts, und einige Minuten passierte auch nichts. Dann klingelte ihr Handy.
«Die Leit san jetzt an der Alm, aber sie sehen Sie nicht. Können Sie sich irgendwie bemerkbar machen?»
«Ja, ich habe eine Pfeife.» Dass sie nicht selbst daran gedacht hatte! Sie saß ja in einem Einschnitt im Berg, und sie selbst sah die Stirnlampen der Retter auch nicht. Wie sollten die dann sie sehen?
«Gut, dann pfeifen Sie.»
«Okay.» Der Einsatzleiter war wieder weg. Christines Pfeife aus rotem Kunststoff war laut amerikanischer Werbung die lauteste Pfeife der Welt. Sie hatte das noch nie wirklich ausprobiert. Jetzt pfiff sie so kräftig, wie sie nur konnte. Das alpine Notsignal: sechsmal innerhalb einer Minute, dann Pause.
Sie wartete. Kurze Zeit später sah sie weit unten schwankende Stirnlampen, klein wie Glühwürmchen. Sie pfiff noch mal.
«Scho guad, mir hom di gsengn!», kam es von unten. Weitere Pfiffe erübrigten sich also. Die Retter hatten jetzt ihre Stirnlampe zur Orientierung. Christine sah auf die Uhr. Seit ihrem Anruf bei der Rettung war schon eine Stunde verstrichen. Die Zeit war wie im Flug vergangen. Aber noch war sie nicht wieder unten. Noch saß sie im Dunkeln auf einem Felsvorsprung.
Deutlich bequemer saß Hilde Stranek in ihrem 60 Quadratmeter großen Wohnzimmer mit Fußbodenheizung für die Wärme und einem Kachelofen für die Gemütlichkeit. Sie hatte sich eine Flasche Rotwein aufgemacht, vor zwei Wochen aus Italien geliefert und laut Gebrauchsanweisung nach ebendiesen zwei Wochen Ruhezeit perfectamente trinkbereit. Sie hatte keine Ahnung, warum Wein sich nach dem Transport beruhigen musste, er saß ja nicht am Steuer. Sie jedenfalls war in diesem Moment die Ruhe selbst, endlich. Um sie herum herrschte ebenfalls Ruhe, nichts war zu hören, außer den dezenten Klängen der Stereoanlage von Bose, deren niedrige Loudness-Grenze laut Prospekt für höchste Klangqualität stand. Vor den Scheiben des Wintergartens ging hinter dem Hochkalter soeben die Sonne unter.
Hilde Stranek hatte sich auf der großen Eck-Couch von Rolf Benz aus cremefarbenem Leder niedergelassen, die sie besonders liebte. Einmal hatten sie einen Graphiker zu Besuch gehabt, der für den DSV Plakate entwarf. Der hatte die Couch nach dem dritten Glas Dimple «spießiges Provinzdesign» genannt. Das konnte aber nicht stimmen, denn es war die teuerste Couch im ganzen Geschäft gewesen. Zu dem Whisky hatte er
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