Holzhammer 02 - Teufelshorn
sie zuerst anrufen sollte: die Bergwacht oder Matthias.
Matthias saß bereits seit einer Stunde wie auf Kohlen. Er hatte nicht einmal mitbekommen, dass der FC Bayern soeben ein Tor geschossen hatte. Seine Standardverabredung mit Christine war, dass er die Bergwacht rufen sollte, wenn sie sich eine Stunde nach Dunkelwerden nicht gemeldet hatte. Aber normalerweise war sie viel früher wieder da oder meldete per Handy, dass sie nach der Tour noch irgendwo einkehrte.
Er überlegte, von sich aus bei ihr anzurufen. Aber vielleicht saß sie gerade im Auto. Er mochte es nicht, wenn sie am Steuer telefonierte. Erstens war es gefährlich, und zweitens konnte es teuer werden. Das war ein ständiger Streitpunkt zwischen ihnen.
Matthias machte den Fernseher aus. Ihm blieb nichts anderes übrig, als für ihre gesunde Wiederkehr zu chanten. Kaum hatte er sich auf seinem Kissen niedergelassen, da klingelte das Telefon.
«Hallo, Matthias, ich muss die Bergwacht rufen. Reg dich bitte nicht auf.» Christine klang ganz ruhig.
Matthias fühlte, wie sich alles in seinem Brustkorb zusammenzog. «Wo bist du? Geht es dir gut? Kann ich was tun? Wann kommst du?», fragte er.
«Es geht mir gut, ich bin nicht verletzt, ich kann nur nicht weiter. Ich ruf jetzt die Bergwacht. Wollte dir nur vorher Bescheid sagen. Mach dir keine Sorgen, okay? Ich melde mich.» Christines Stimme war ruhig und fest.
Das waren ziemlich viele Informationen auf einmal. In seinem Kopf formten sich hundert Fragen, die er alle nicht stellte. Es war wichtig, dass Christines Akku durchhielt und dass sie jetzt möglichst schnell Hilfe bekam. Dazu war es am besten, wenn sie selbst mit der Bergwacht telefonierte. Er konnte in diesem Moment gar nichts tun. Außer sie nicht zusätzlich zu beunruhigen. Daher sagte er nur mit möglichst ruhiger Stimme: «Ist gut, ich warte.»
Als sie aufgelegt hatten, rannte Matthias eine Weile planlos durch die Wohnung. Es konnte Stunden dauern, bis er wieder etwas von ihr hörte. Die Angst. Es gab nur eins, was er tun konnte. Er setzte sich wieder auf sein Kissen vor dem Gohonzon und chantete, wie er noch nie gechantet hatte. Das beruhigte. Er würde das Universum schon auf seine Seite bringen.
Als eine halbe Stunde später das Telefon klingelte, hechtete er zum Apparat: «Ja?»
«Servus, da ist der Hias, ich wollte euch einladen. Zum Herbstfest der Weihnachtsschützen. Du warst so nett bei meinem kurzen Intermezzo im Café Viereck.»
Matthias war mit seinen Gedanken ganz woanders. Nur mit Mühe konnte er sich auf die Worte seines Cousins konzentrieren. Es ging um eine elitäre Veranstaltung, zu der es im freien Verkauf praktisch keine Karten gab. Dass Hias welche hatte, war natürlich klar.
Es gab mehrere Bergwachten für die verschiedenen Gebiete der Berchtesgadener Alpen. Je nachdem, von welchem Tal aus man am schnellsten hinkam. Zum Glück brauchte man das in Bergnot nicht so genau zu wissen.
Christine wählte 112 und landete bei der Rettungsleitstelle Traunstein: «Grüß Gott, ich brauch die Bergwacht», sagte sie.
«Wo san’s denn?», fragte eine vertrauenerweckende Männerstimme zurück.
Christine schilderte so genau wie möglich ihren Standort.
«Was zeigt Ihr Höhenmesser?», fragte die Stimme.
Christine gab Auskunft.
«Können Sie die Lichter von Hintersee sehen?»
Christine sah keine Lichter, konnte sie von dort auch nicht. Aber die Fragen gaben ihr die Gewissheit, dass am anderen Ende jemand saß, der nicht nur eine Karte vor sich hatte, sondern sich in dem Gebiet auch genau auskannte.
Sie wurde noch gefragt, ob sie verletzt sei, ob andere dabei seien und ob sie sich in unmittelbarer Lebensgefahr befinde. Alles nein.
«Gut, in ein paar Minuten ruft Sie der Einsatzleiter der Bergwacht an. Halten Sie bitte die Leitung frei», sagte die Stimme aus Traunstein. Dann war das Gespräch beendet.
Christine saß im Dunkeln auf ihrem Felsvorsprung und dachte an ihre allererste Bergwanderung. Damals hatte sie nicht einmal eine Jacke dabeigehabt. Pudelnass war sie geworden. Sie hatte wahrscheinlich ausgesehen wie die letzte und dümmste Turnschuhtouristin, als Matthias sie damals am Parkplatz Königssee aufgelesen hatte. Schlamm an der Hose, Schlamm am Hintern, Schlamm im Gesicht. Vom Regen durchsichtige Bluse. Aber schlecht gefühlt hatte sie sich nicht – nur nass. Genau an jenem Tag war der Grundstein für ihre Bergleidenschaft gelegt worden. Denn es ging nicht nur um Sport, das wäre gelogen. Es ging auch um den
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